Kaum haben wir die rote Linie in der Mitte der Brücke überquert, werden wir von einem der nepalesischen Jungs gleich angequatscht. Er will uns eine Jeeptour nach Kathmandu andrehen. Doch wir müssen erst mal ins Touristen- und Emigrantenbüro unsere Visa ausstellen lassen. Hinter einem schmalen Holztresen stehen und sitzen Nepalesen und bearbeiten Visaanträge wie am Fließband. Ich wühle mich durch die Menschen, die vor dem Tresen Dokumente entgegennehmen, bezahlen und Fragen stellen. Ein Mann indischen Aussehens fragt mit typisch indischem Akzent womit er behilflich sein dürfe. Ich bekomme sechs Visaanträge und Einreisedokumente über den Tresen gereicht und verteile sie an die Gruppe. Nachdem wir alles unkompliziert ausgefüllt haben, geben wir die Zettel mit Pass wieder ab und warten ungeduldig auf die Bearbeitung. Die Uhr an der Wand hinterm Tresen zeigt zehn nach neun, auf unseren Armbanduhren ist es schon 11.25 Uhr, wir stellen zwei Stunden und fünfzehn Minuten zurück. Zeit gewonnen und so eine merkwürdige Menge!

Als das Visum im Pass klebt und die Dollarscheine die Seiten gewechselt haben – nicht ohne peinlich genau gegen das durch kleine dreckige Fenster einfallende Licht gehalten, gedreht, gewendet und geprüft worden zu sein – und in einer ollen Holzschublade voller lose herumliegender Geldscheine verschwunden sind, müssen wir uns noch eine Unterschrift vom Herrn im Büro nebenan abholen um unser Visum komplett zu machen. Er sitzt friedlich und würdevoll hinter einem massiven Holzschreibtisch, vor ihm eine Tageszeitung, und studiert unsere Ausweise. Auf der Titelseite der Zeitung sehen wir das unscharfe Bild eines blutigen Mannes. Wer das sei wollen wir wissen. “Gadafi”, antwortet der Beamte. Gadafi ist tot?! Wir haben nichts mitbekommen.

Ausgestattet mit frisch unterschriebenen Visa laufen wir die dreckig nasse Asphaltstraße hinunter.  Lieferwagen kommen uns hupend entgegen, Roller und Motorräder quetschen sich auf den letzten Millimeter zwischen uns und Karosserie der Brummis, wir schlängeln uns durchs ganz normale Chaos. Bei den Jeeps angekommen bekommen wir unverschämte Angebote gemacht: Einer will uns für 10.000 Rs (knapp 100€) nach Kathmandu mitnehmen, der nächste für 1.000 Rs pro Person, doch uns ist all das zu teuer. Wir wollen 4.000 Rs für alle sechs zusammen bezahlen, doch die Jungs winken ab. Wir versuchen es mit dem Bus. Der soll 500 Rs pro Person kosten. Als wir Anstalten machen auf den Bus um 11.30 Uhr  zu warten, geht der Fahrer des Jeeps auf unseren Preisvorschlag ein. Als wir jedoch alle mit unseren Taschen vor ihm stehen, weiß er plötzlich nichts mehr von seiner Zusage. Wir sind sauer und gehen zum Bus, der dann auch nur noch 300 Rs pro Person kostet. Unser Gepäck kommt mit einem mulmigen Gefühl aufs Dach, wir nehmen unsere Plätze ein und müssen gleich wieder Platz machen, da wir angeblich auf reservierten Plätzen sitzen. Andere Touristen steigen dazu und sollen 400 Rs zahlen, doch wir decken den Schwindel auf, der Ticketkassierer hat nicht mal ein schlechtes Gewissen und grinst nur verschmitzt. Als der Bus voll und verspätet ist, setzt er sich endlich brummend und hupend in Bewegung. Langsam kriechen wir die enge Sandstraße den Hang hinab. Rechts der steile Berg und ab und zu ein paar Häuser, Kinder, Kühe, Hühner, links von uns der steile Abhang oder ebenfalls Holzhütten und Menschen. Zwischendurch müssen wir immer wieder anhalten, um auf irgendwen zu warten oder einen anderen Bus auf der schmalen Spur vorbei zu lassen. Einmal halten wir in einem kleinen Ort direkt vor der Wasserstelle, an der sich eine Frau um die 40 gerade wäscht. Sie ist in ein riesiges dunkelrotes Tuch, dick wie ein Schal, gehüllt und wäscht sich unter den Blicken aller unter ihrem Umhang. Ein Mädchen ist ihr dabei behilflich und schrubbt ihr den Rücken. Sie tut mir leid, doch sie scheint es gewohnt zu sein sich in aller Öffentlichkeit zu waschen.

Ein Klopfen auf dem Dach signalisiert dem Fahrer, dass es weiter gehen kann. Erst jetzt bemerken wir die drei jungen Männer, die unsere Busfahrt durch Klopfen und Pfiffe mitnavigieren und zusätzlich Geld einsammeln. Dabei hängen sie sich bei voller Fahrt aus der Tür heraus oder klettern von außen aufs Busdach und signalisieren durch Pfiffe, dass wir millimetergenau am entgegenkommenden Bus vorbei fahren können. Von meinem offenen Schiebefenster aus kann ich das ganz gut beurteilen, ich muss nur den Finger rausstrecken.

IMG_4864 (Small)

“Of Road Express” wartet auf Einsatz.

IMG_4870 (Small)

Die schöne Aussicht macht gute Laune.

IMG_4878 (Small)

Die Landschaft durch die wir fliegen, ist malerisch üppig: Saftig grüne Terrassen, alles ist lebendig und der Fahrtwind ist erfüllt von allen möglichen Gerüchen. Nach der tibetischen Hochebene ist das eine Überflutung unserer Sinne. Wir fahren haarscharf an am Straßenrand liegenden Hunden, spielenden Kindern, schwatzenden Alten und trocknenden Früchten und Gemüsen vorbei. Alles wird überzogen mit den pechschwarzen Abgaswolken, die unser Bus seitlich ausbläst.

IMG_4882 (Small)

Wir können uns gar nicht satt sehen an all dem Grün, dem Wasser…

IMG_4890 (Small)

… und den Szenen am Straßenrand.

IMG_4911 (Small)

Auf einem Hügel wacht Shiva über das Kathmandu Valley.

Die Fahrt dauert über fünf Stunden. In Kathmandu angekommen sind wir verschwitzt und k.o. Doch jetzt heißt es Unterkunft suchen. Wir wissen, dass wir wieder bei einem Couchsurfer untergebracht sind, doch wir wissen nicht wo er wohnt. Die einzigen, die sich eine Unterkunft gesucht haben und deren Adresse im Lonely Planet steht, sind natürlich Sjoukje und Quint. Also stürzen wir uns alle auf zwei Taxen und fahren hupend und in den gewohnt rasanten Schlangenlinien zum Hotel Potala. Das Hotel liegt mitten im chaotischen Stadtzentrum Thamel, dem touristischen Shopping-Centrum Kathmandus mit Outdoorläden, die alles an Equipment verkaufen was man für Trekking in den Bergen gebrauchen kann (alles gefälscht natürlich), neben Esoläden voller handgewebter Röcke aus Hanfwolle, Umhängetaschen und Räucherstäbchen, deren schwerer süßlicher Duft auf die Gassen schwappt, billigem Silberschmuck, Läden voller Aufnäher und Flaggen, Wollmützen, Schals und Handschuhen, dazwischen die ein oder andere Kneipe, Restaurants mit so einfachen Namen wie “New Tibetan Restaurant”, “Third Eye” oder “Namaste Bar”. Das alles wird durchzogen von einem Gewühl aus westlichen Touristen, die vor hupenden Motorrädern und Kleinwagen davonspringen.

Im Schritttempo erreichen wir endlich die kleine Gasse, in der sich das Hotel befindet. Das Taxometer, das der junge Taxifahrer nur widerwillig eingeschaltet hat (wer kann schon Helens sanft aggressiven Überredungskünsten widerstehen?!), zeigt 182 Rs, wir geben ihm 200 Rs, das wollte er am Anfang auch als Fixpreis haben.

Wenig später befinden sich alle auf der großen Terrasse des Hotel Potala, die mit Lichterketten und großen Topfpflanzen eine gemütliche Atmosphäre verbreitet. Ein Stockwerk tiefer tobt jedoch das Chaos der Motorräder und hupenden Autos, übertönt zwischenzeitlich nur von den quäkenden Hupen der Rikschafahrer und Bob Marley, der lautstark in einem der Shops gespielt wird.

Wir nehmen an einem großen Tisch Platz und beginnen Essen und Getränke zu bestellen. Mittlerweile ist es dunkel geworden, wir sind unglaublich hungrig und geschafft von dem langen Tag. Für Anne Marie und mich gibt es erstmal einen “Tom Collins”, der uns gleich in den Kopf steigt. Danach Reis Curry, gebratenen Reis, Sandwiches und Pommes, auf die sich alle gierig stürzen. Die Jungs im Hotel sind ganz fürsorglich und passen auf, dass wir immer genug von allem haben. “Yes Ma’am”, “Yes Please!”, sind ihre aufmerksamen Antworten. Dann holen alle ihre Laptops heraus auf der Suche nach ihrer Unterkunft. Wir schreiben unserem Couchsurfer Jay, dass wir uns im Hotel Potala befinden und versuchen seine etwas ungenaue Adresse (near Thamel) auf Google Maps zu finden. Nach einem Monat Abstinenz können wir auch endlich wieder Facebook besuchen und unsere Rückkehr in die Zivilisation bekannt geben.

IMG_4921 (Small)

Alle sind vertieft in ihre technischen Geräte.

Nach und nach verschwinden die anderen, Sjoukje und Quint in ihr Zimmer, Helen ins Hostel nebenan, Anne Marie nimmt ein Taxie zum Hostel “Sparkeling Turtle”, das etwas außerhalb gelegen ist. Dann sind nur noch wir beide übrig und warten auf unseren Couchsurfer, der 45 Minuten später als angekündigt endlich mit einer kleinen drallen Chinesin an seiner Seite auftaucht, die uns als Coco, seine Freundin, vorgestellt wird. Wir machen uns gleich auf den Weg zu Jay’s  und Coco’s Appartement. Der Weg führt uns erst raus aus den schmalen Gassen Thamels, durch chaotischen Verkehr und dann wieder rein in kleine Gassen, diese jedoch ohne Beleuchtung und mit weniger Verkehr. Wir schlängeln uns durch das unübersichtliche Labyrinth eines Wohnviertels, biegen mehrmals ab, laufen im Stockdunkeln über holprige Sandwege, an einem gefährlich bellenden Hund vorbei, durch den Garten eines Hauses und befinden uns plötzlich vor einem mehrstöckigen Haus. Wir müssen unsere Schuhe unten am Eingang ausziehen und auf Socken die zwei Stockwerke über eine Steintreppe nach oben laufen. Dort werden wir sogleich von einem kleinen schwarz-weiß gefleckten Spitz und zwei jungen indischen Männern begrüßt. Wir treten ins Wohnzimmer. In einer Ecke vor dem Fernseher liegen Sitzkissen an der Wand, dahinter befindet sich die offene Küche. Jay erklärt uns, dass in dem Zimmer, in dem wir eigentlich schlafen sollten, nun eine indische Familie untergebracht sei. Der ältere der beiden Inder sei ein Freund von ihm, der seit Kurzem in Kathmandu arbeitet und übergangsweise (oder auch längerfristig) bei Jay im Gästezimmer lebt. Sein kleiner Bruder und seine Eltern seien zur Zeit zu Besuch da. Die schüchterne Mutter streckt auch kurz ihren stetig auf ihrem Hals locker hin und her wackelnden Kopf durch die Tür und begrüßt uns höflich.

Wir werden gebeten auf den Sitzkissen vorm Fernsehen Platz zu nehmen. Auf dem Bildschirm jagen sich Tom und Jerry. Jay reicht uns ein gutes Glas Whiskey. Dann bietet er uns an in seinem Schlafzimmer zu übernachten. Er und Coco würden dann im Wohnzimmer auf dem Boden schlafen. Wir sind wieder hin und her gerissen. Einerseits hat Jay uns einen Schlafplatz  bei ihm zugesagt. Andererseits fühlen wir uns auch schlecht wenn er unseretwegen auf dem Boden schlafen muss. Doch wir sehen auch nicht ein, nach dem langen und anstrengenden Tag auf dem Boden zu schlafen. Mittlerweile ist es halb 12 nepalesischer Zeit, für uns also Viertel vor zwei in der Nacht. Erschöpft lassen wir uns auf Jay’s Bett fallen. Nachts töte ich ein paar Mücken. Um 6 Uhr geht draußen das Leben los und an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Im Garten nebenan schneidet eine Gruppe Frauen das hohe Gras und fasst es zu aufrecht stehenden Bündeln zusammen. Die Familie unten im nächsten Haus macht kollektiv ihre Morgentoilette mit Waschen, Zähneputzen, Abhusten und Kindergeschrei. Auf dem Hausdach direkt unterhalb unseres Fensters formt eine alte Frau in langem Gewand kleine Teigbällchen aus einer klebrigen Masse und verteilt sie gleichmäßig zum Trocknen auf einem ausgebreiteten Tuch auf dem Boden. Hin und wieder läuten kleine Glöckchen und ein Haus weiter spielen ein kleiner Junge und ein Mädchen auf dem Hausdach Fußball mit einem platten Gummiball. Ich greife mir den Laptop und beginne mit meinem Tibetbericht, ich habe noch so viel nach zu holen.

IMG_4926 (Small)

Morgenstimmung in Kathmandu.

Um 8 Uhr kommt Jay ins Zimmer und reicht mir einen Bananen-Lassi, den er frisch zubereitet hat. Dazu gibt es French Toast. Wir machen uns auf in die Stadt. Wollen wir noch eine Nacht bei Jay bleiben oder sollen wir uns eine neue Unterkunft suchen? Zunächst müssen wir jedoch den Weg in die Stadt finden. Jay’s Wegbeschreibung hilft uns wenig und draußen sieht alles gleich aus, wir erkennen nichts wieder. Wir irren durch die lebendigen Straßen, überall sind kleine Läden geöffnet, Menschen transportieren Güter durch die Gegend, arbeiten vor ihren Läden oder hängen einfach nur in der Sonne ab und verfolgen uns im neugierigen Blicken.

IMG_4950 (Small)

Das bunte Durcheinander Kathanduer Wohnviertel.

IMG_4955 (Small)

Wir sind mal wieder die einzigen “Weißen” weit und breit und so orientierungslos wie ich mich fühle, ist die Situation eher unangenehm. Irgendwann haben endlich eine breitere Straße gefunden, auf der der Verkehr wieder Atemwege und die halbwegs gepflasterte Straße verstopft. Wir schlängeln uns durch die Autos, Motorräder, Straßenverkäufer und Essensreste auf dem Boden. Dann kommt uns endlich die Umgebung bekannter vor und wir suchen das Hotel Potala auf, auf dessen Terrasse Sjoukje und Quint gerade gemütlich frühstücken. Wir sind immer noch unschlüssig wie es mit uns in Kathmandu weiter gehen soll und werden von den beiden bemitleidet, für die wäre Couchsurfing nichts.

Den Mittag und frühen Nachmittag verbringen wir in den verwinkelten Straßen Thamels und schauen uns nach Daunenjacken, Handschuhen und Mützen für unseren Trek um. Wir müssen uns entscheiden ob wir mit Anne Marie und ihrem Trekkingpartner Steve, mit dem sie sich übers Internet zusammen getan hat, zum Mt. Everest Basislager wandern wollen, oder allein die Anapurna Runde laufen wollen. Natürlich wäre es schön noch ein bisschen mehr Zeit mit Anne Marie zu verbringen und sicherlich auch gut zu viert statt nur zu zweit unterwegs zu sein. Doch dafür müssten wir erst nach Lukla fliegen und ein Flug kostet pro Person 120 US$, zuzüglich all der Permits und Eintrittsgelder, die wir für den Trek bräuchten.

Wir überlegen hin und her. Mir ist das zu teuer und ich finde es Quatsch, dass wir jetzt, nach 3 1/2 Monaten Reisen ohne Flug anfangen innerhalb eines Landes zu fliegen. Einen Bus nach Lukla gibt es jedoch nicht (dafür fehlt die Straße) und ein Trek von Jiri, dem letzten Busstopp auf dem Weg nach Lukla, dauert sechs Tage. Anne Marie und Steve fliegen aber wahrscheinlich schon am übernächsten Tag…

IMG_4937 (Small)

Beratungszeit beim Mittagessen.

Nachmittags versuchen wir wieder unseren Weg zurück zum Appartement zu finden. Erst sind wir ganz zuversichtlich, dann verlaufen wir uns jedoch wieder im Straßenchaos. Wir laufen mehrmals wieder zum Ausganspunkt zurück und versuchen alle möglichen Abbiegungen. Von den neugierigen Menschen am Wegesrand werden wir interessiert beobachtet und manchmal auch gegrüßt. Einmal grüßt uns ein junger Mann, den wir erst nicht erkennen, doch dann drehen wir uns noch mal um und sehen, dass es sich um den jüngeren der beiden Inder handelt, der uns an Christian’s Bruder Philipp erinnert. Wir sind heilfroh ihn zu treffen und er bietet an uns zu Jay zu bringen. Er erzählt uns, dass er 19 Jahr alt ist und Ingenieurwesen studiert. Sein Studium macht ihm jedoch nicht besonders viel Spaß und er verrät uns, dass er lieber bei der Air Force arbeiten würde. Dafür sollen dann auch seine Augen demnächst gelasert werden.

Irgendwann werde ich stutzig: Wir gehen ja wieder zurück in die Stadt, dabei wollen wir doch zu Jay nach Hause! Oh! Er hatte verstanden wir wollten zu Jay’s Laden in Thamel, in dem er Trekkingreisen verkauft (er wollte uns morgens auch schon eine andrehen…), wir wollen aber zu seiner Wohnung… Also kehren wir wieder um. Wir gelangen zurück zu dem Punkt, an dem wir den kleinen Bruder getroffen haben. Er schwingt sich mit den Worten, wir sollten weder Jay, noch seinem großen Bruder und schon gar nicht seinem Bappa davon erzählen, auf ein Motorrad – ein recht großes sogar! –  und startet geräuschvoll den Motor. Er deutet uns ebenfalls aufzusteigen. Alle beide?? Christian sitzt schon hinter ihm, ich bekomme den halb-in-der-Luft-Sitz ganz hinten und klammere mich kopfschüttelnd und unschlüssig ob ich jetzt lachen oder weinen soll mit der einen Hand am Inder mit der anderen an Christian fest – sicher ist sicher, sofern das ohne Helm, ohne alles!, überhaupt geht. Dann geht’s auch schon los. Es fängt an zu regnen. Wir schlängeln uns durch die Fußgänger, an Autos vorbei, um Schlaglöcher herum, auf der Geraden gibt er Gas, die dicken Tropfen klatschen mir ins Gesicht und auf die Oberschenkel. Dann sind wir auch schon da. Er betont noch einmal nichts zu verraten, dreht umständlich auf der schmalen, seitlich abfallenden Straße um und fährt davon.

Unten am Haus stehen wir vor verschlossener Tür. Was sollen wir tun? Wir klopfen an die Tür bis einer aufmacht, der Nachbar von unten. Wir erklären wo wir hingehören und müssen oben erneut hoffen, dass uns jemand reinlässt. Zum Glück ist die indische Familie immer zuhause. Jay ist nicht da. Wir bleiben kurz und müssen dann auch schon wieder los – der Weg hat uns ziemlich viel Zeit gekostet. Um 19 Uhr sind wir mit unserer Tibetgruppe zum Abendessen verabredet.

Diesmal merken wir uns den Weg ganz genau und hoffen, dass wir nachts zurück finden. Zwar ist es schon dunkel, wir finden den Weg jedoch auf Anhieb und sind pünktlich vorm Hotel Potala. Sjoukje und Quint warten schon. Helen ist nachmittags abgereist, sie hat sich morgens kurzentschlossen einen Flug nach Malaysia gebucht, um dem Chaos der Stadt zu entfliehen. Anne Marie und Steve kommen wenig später. Der süße Kellner aus dem Hotel gesellt sich zu uns und will uns davon überzeugen bei ihm zu essen, doch wir suchen etwas anderes.

Nach ein paar Fehlversuchen landen wir schließlich in einem einfachen nepalesischen Restaurant, in dem wir erstaunlicher Weise  die einzigen Touris sind. Um uns herum essen die Gäste Reis mit Gemüse und Soße (genannt Dal Bhat) von einem großen Silberteller, der eher wie ein einfaches Tablett aussieht, und das alles mit ihren Händen. Wir bestellen das gleiche, doch Anne Marie und ich sind die einzigen, die die Ärmel hochkrempeln und mit unserer rechten Hand Reis mit Beilagen mischen und uns dann in den Mund stecken. Zum Nachtisch geht es dann doch zurück ins Hotel Potala, auf die gemütliche Terrasse, denn dort gibt es einen super leckeren Schokopudding, und der süße Kellner freut sich auch.

Wir finden unseren Weg ohne Probleme zurück, stehen dann jedoch vor einem verschlossenen Tor. Christian klettert wagemutig über die gefährlich aussehenden Eisenspitzen des Tors, ich bleibe draußen, dann klopft er wieder beim Nachbarn, der auch wieder öffnet: Wer er sei, ob er allein sei, wo er hin wolle, woher er Jay kenne, ob Jay ihn auch kenne, warum er keinen Schlüssel habe und ob er keine Angst habe nachts durch die dunklen gefährlichen Gassen zu laufen. Dann schließt er endlich das Tor auf und lässt uns passieren. Oben öffnen uns wieder die Inder. Jay ist immer noch nicht zu Hause und wir gehen schlafen. Diesmal schließen wir die Fenster, lassen die Mücken und lauten Morgengeräusche draußen und können so ein bisschen länger schlafen.

Um 9 Uhr am nächsten Morgen kommt Jay nach Hause. Die indische Mama macht ein lecker herzhaftes Frühstück für uns, bestehend aus Linsenbällchen mit Knoblauch-, Chilli-, Ingwerfüllung und scharfer Soße. Dabei wackelt ihr Kopf beständig wie der einer Marionette auf ihrem Hals hin und her. Ein bisschen irritierend, wir haben jedoch bereits gelernt, dass diese Geste in der indischen Kultur Zustimmung bedeutet und freuen uns daher über ihre Freundlichkeit.

IMG_4948 (Small)

Indische Mama mit jüngerem Sohn und hyperaktivem Hund.

Jay ist übernächtigt und erzählt uns von der Party und dass er gar nicht geschlafen habe. Wir räumen das Schlafzimmer und ziehen aus. Leider können wir uns nicht bei der deutschen Botschaft registrieren, da die – wie es sich in Deutschland gehört – sonntags geschlossen hat. Das Internet bei Jay funktioniert auch nicht und wir haben uns entschieden mit Anne Marie und Steve nach Lukla zu fliegen, mit ihnen zum Basecamp zu laufen und auf dem Rückweg nach Jiri zu wandern, um dann mit dem Bus nach Kathmandu zurück zu fahren. Da es am nächsten Tag schon losgeht gibt es viel zu organisieren heute: Flug buchen, Trekkingzulassung besorgen, Eintrittsgelder bezahlen, Wanderkarte kaufen, Daunenjacken und Handschuhe ergattern… Erst müssen wir uns jedoch eine neue Unterkunft suchen. Das Potala ist ausgebucht, aber wir bekommen ein schmuddeliges Zimmer im Hostel nebenan. Dann laufen wir zum Büro von Nepal Airlines und finden heraus, dass es noch Plätze bei Yeti Airlines für den nächsten Tag gibt. Doch buchen können wir die Plätze hier nicht, dafür müssen wir angeblich zum Flughafen. Wir laufen wieder in die Innenstadt, dort muss es doch ein Yeti Büro geben, in dem wir die Tickets buchen können. Die Straßen werden immer voller, wir quetschen uns durch den brodelnden Verkehr. Im Yeti Airlines Büro erfahren wir dann, dass es keine Plätze mehr gibt. Ich bin enttäuscht – jetzt haben wir uns dazu entschieden und da soll es plötzlich keine Plätze mehr geben!?

Doch der Typ am Schalter schaut in unsere enttäuschten Gesichter, greift zum Telefon und findet eine Airline, die noch Plätze anbietet. Während ich auf die Kontaktperson warte, läuft Christian zum Hotel Potala, da dort auch Flüge angeboten werden. Ich werde abgeholt und folge mit übelster Laune dem Kontaktmann. “Where are you from?”, die Art wie ich antworte macht ihm deutlich, dass ich gerade nicht in der Stimmung für Tourikonversation bin und er lässt mich zum Glück für den Rest des Weges in Ruhe. Nach fünf Minuten erreichen wir seine Agentur. Ich soll mich in dem kleinen Büro an den Schreibtisch eines beleibten Nepalesen setzen, vor ihm ein Telefon und ein dicker Stapel Dollarscheine, der mit einem Gummiband zusammengehalten wird. Er macht mir ein Angebot: Flug morgen um 6.30 Uhr, Kosten 120 US$ pro Person. Die Eckdaten hält er mit einer unleserlichen Krakelschrift auf einem Blatt Papier fest. Plötzlich klingelt das andere Telefon im Raum, das auf einem zweiten Schreitisch steht, hinter dem sich die drei jüngeren schlankeren Assistenten knubbeln. Ich werden rüber gewunken und der eine von den dreien drückt mir den Hörer in die Hand. “Hello?”, ich höre eine Stimme, die in gebrochenem Englisch so etwas sagt wie “husband”, dann wird der Hörer weitergereicht und ich höre Christians “Hello?”. Er ist wieder bei der Yeti Agentur und hat im Potala herausgefunden, dass es noch Plätze am Vormittag gibt. Ich erkläre dem Boss im Büro, dass ich mich mit meinem Freund absprechen muss und falls ich in einer halben Stunde nicht wieder da bin, soll er den Flug an jemand anderen verkaufen.

Ich laufe zurück durch das Thameler Chaos und hole Christian bei Yeti ab. Der lässt gegenüber noch Passbilder für unseren Trekkingausweis machen, ich hole in der Zwischenzeit ein dickes Bündel Scheine am Geldautomaten ab. Dann laufen wir gemeinsam zum Potala und machen unseren Flug klar. Um 10.30 Uhr soll es losgehen, das passt ja gut, denn Anne Marie und Steve fliegen um 11 Uhr. Die Tickets können wir jedoch erst in einer Stunde abholen, da sie erst geliefert werden müssen.

IMG_4965 (Small)

Also stürzen wir uns wieder in die Masse aus Menschen, Mopets, Autos und Hühnern und laufen zum Touristen Informationscenter, um unsere Trekkingausweise ausstellen zu lassen (sogenannten TIMS-Card, Kosten pro Person 1.650 Rs) und unser Eintrittsgeld für den Sagarmatha-Nationalpark zu bezahlen, in den wir uns begeben werden (Kosten pro Person 1.000 Rs).

IMG_4971 (Small)

Ganz normaler Nachmittag auf Kathmandus Straßen.

IMG_4985 (Small)

Auf dem Rückweg machen wir einen kleinen Schlenker über den Durba Square.

Dann geht es wieder quer durch die Innenstadt in unser Hostel und unsere Schmutzwäsche packen, zurück auf die Straße und einen günstigen Ort zum Wäsche waschen suchen. Überall wird das Kilo Wäsche für 50 Rs angeboten, doch da wir unsere Wäsche schon in zwei bis drei Stunden wieder haben wollen, sind wir schnell bei 200 Rs pro Kilo, bei 4,5 kg ganze 900 Rs! Nein, das wollen wir nicht bezahlen! Also genervt weiter suchen. Wir finden einen, der unsere Wäsche für 500 Rs waschen und trocknen will (“Really clean and really dry” – als wenn was anderes möglich wäre) und das bis 19 Uhr. In mir sträubt es sich zwar immer noch gegen den Wucherpreis, doch wir haben wohl keine Wahl. Denn wir haben bis 19 Uhr auch noch einiges zu erledigen: Daunenjacken kaufen (wir kaufen bei dem Händler, der aus dem Nichts heraus die richtigen Jacken in Farbe und Größe herzaubert), Handschuhe und eine Karte unseres Treks (Jiri to Everest Base Camp). Dann können wir auch schon unsere Wäsche abholen.

Um 19.45 Uhr sind wir mit den anderen wieder zum Essen verabredet. Jay und Coco sind auch mit dabei sowie eine ganze Horde anderer, die ein Freund von Anne Marie mitgebracht hat. Jay führt uns in ein tibetisches Restaurant.

IMG_4992 (Small)

Jay, Quint und Sjoukje scheint es zu schmecken.

Nachdem alle schon gegangen sind stimmt die Rechnung nicht, doch Jay kümmert sich drum und auch wir können gehen. Der Abschied von Jay und Coco fällt leicht und unemotional aus. Bevor wir um halb eins endlich im Bett liegen, duschen wir beide nochmal vorsorglich – inklusive Haare waschen – sortieren unsere Sachen – wir nehmen zum Wandern natürlich nur das Notwendigste mit – registrieren uns online bei der deutschen Botschaft – man weiß ja nie wozu das gut sein kann – und sagen auch zuhause Bescheid.

Am nächsten Morgen müssen wir früh raus. Unser Flug geht nämlich, statt wie gebucht um 10.30 Uhr, schon um 9.30 Uhr. Also klingelt um 6.30 Uhr der Wecker und um 7 Uhr stehen wir abfahrbereit auf der erstaunlich leeren Straße. Wir müssen noch Geld abheben, doch der Geldautomat funktioniert mal wieder nicht. Die Taxen stehen bereits wartend in Sichtweite, wollen uns mit ihren Angeboten locken. 500 Rs will einer für die Fahrt haben. Wir haben keine Ahnung was die Fahrt kosten darf. Er weigert sich jedoch sein Taxometer einzuschalten. Also steigen wir wieder aus und erst wieder bei dem Taxifahrer ein, der sich bereit erklärt mit Taxometer so fahren. Erst kurven wir ein wenig durch Thamel, dann verlassen wir den Stadtkern und fahren durch Wohngebiete und über eine “Schnellstraße” Richtung Flughafen. Der Fahrer erkundigt sich, ob wir international oder domestic fliegen und bringt uns anschließend vorbei am großen internationalen Flughafen zur kleinen schäbigen Abfertigungshalle für Inlandsflüge. Als wir anhalten zeigt sein Taxometer 320 Rs, wir geben ihm 350 Rs weil er so schnell und vor allem so ehrlich war. Es ist 7.30 Uhr und wir reihen uns in die Schlange am Eingang. Dort gibt es dann auch noch einen funktionierenden Geldautomaten an dem wir uns nochmal mit Scheinen eindecken können.

Im Innern der Halle sieht es aus wie es vor 30 Jahren schon ausgesehen haben muss: Jede Airline hat einen einfachen Stand auf dem ein Zettel mit dem Zielort des heutigen Fluges klebt. In der Mitte ein paar ausgeleierte Plastikschalensitze. Die kleinen Fenster in den ehemals hellblau gestrichenen dreckigen Wänden, die unterhalb der etwa sieben Meter hohen Decke ein wenig Tageslicht reinlassen, haben fast alle keine Scheiben mehr und so fliegen Tauben gemütlich ein und aus. Das Gepäck wird auf großen manuellen Waagen neben jedem Schalter gewogen und hinter den Schaltern, mit einem großen Schritt über die Waage erreichbar, geht es nach einer oberflächlichen Sicherheitskontrolle zu den Gates. Aber so weit sind wir noch nicht!

IMG_4995 (Small)

Morgendliche Müdigkeit in der Abfertigungshalle.

Erst mal finden wir den Stand unserer Airline (Agni), was bei der übersichtlichen Anzahl an Airlines kein Problem ist, dann zeigen wir unsere Flugtickets. Die geschäftigen Damen hinterm Schalter werfen nur einen flüchtigen Blick auf unsere Tickets und meinen dann wir sollten uns noch ein bisschen gedulden. Also suchen wir uns einen Platz in der Halle und beobachten die müden Gesichter anderer Backpacker. Um 8.30 Uhr versuchen wir es erneut mit dem Einchecken, doch diesmal wird uns mitgeteilt, dass unser Flug nicht um 9.30 Uhr, sondern um 10.30 Uhr geht. Na super! Wir trauern ein wenig um die Stunde Schlaf, die wir verpasst haben und trösten uns mit einem Frühstück im Flughafenrestaurant, das sich oberhalb des Security Checks befindet. Um 9.30 Uhr stehen wir wieder vor unserem Schalter und dürfen tatsächlich unsere Taschen auf die Waage werfen: 27 kg zusammen.

Endlich durch den Security Check, endlich einen Schritt näher an unserem Flug nach Lukla. Wir suchen Flug und Flugnummer auf einem der Monitore, die an den Wänden des Wartesaals angebracht sind, finden beides, nur die Uhrzeit ist falsch: Auf dem Monitor steht die Abflugzeit 11.30 Uhr. Noch eine Stunde später? Doch wir sind nicht die Einzigen, die verwundert auf die Monitore starren: Eine Gruppe, bestehend aus einer Deutschen und zwei Dänen sollte eigentlich um 8.30 Uhr fliegen, eine Gruppe Holländer sucht noch vergeblich nach ihrem Flug auf dem Bildschirm.

Um halb elf wird mal wieder ein Flug aufgerufen, was einen Freudenjubel unter einer weiteren resigniert und müde blickenden Reisegruppe auslöst. Als wir fragen wann ihre ursprüngliche Abflugzeit war, antworten sie 6.30 Uhr!

Mittlerweile sind auch Anne Marie und Steve eingetrudelt, die nicht damit rechnen um 11 Uhr zu fliegen. Verena, die Deutsche mit den dänischen Reisefreunden schließt sich mehr und mehr unserer Gruppe an. Um 13 Uhr wollen wir alle kollektiv etwas zu Mittag essen gehen. Kaum haben wir bestellt, kommt ein Typ ins Restaurant gestürmt und ruft irgendeine Flugnummer auf. Steve und Anne Marie springen sofort auf und Steve lässt seinen gebratenen Reis stehen. Unschlüssig folgen alle anderen. Am Gate stellt sich heraus, dass ihr Flug tatsächlich startbereit ist.

Wir erkundigen uns noch einmal nach unserem Flug und erfahren, dass es noch eine Stunde dauern soll, bis AGN109 dran ist. Trotzdem trauen wir uns nicht wieder nach oben. Nur Christian holt uns ein paar gebratene Momos (gefüllte Teigtaschen), die wir im Wartesaal verspeisen. Kaum haben wir das getan, kommt unser Aufruf, zeitgleich mit dem der Holländer, deren Flug nie auf dem Bildschirm erschienen ist.

Zuerst geht es in den Bus, dann aufs Rollfeld. Dort stehen wir nochmal eine halbe Stunde herum, bevor wir in die futzikleinen Flugzeuge einsteigen dürfen. Auf jeder Seite ein Sitz, etwa sieben Sitze hintereinander, insgesamt also circa 14 Passagiere, den Piloten können wir bei der Arbeit zusehen.

IMG_4999 (Small)

Vertrauenserweckendes Verkehrsmittel?

IMG_5000 (Small)

Wenigstens können wir eingreifen falls was schief geht…

Wieder vergehen 30 Minuten, Zeit um sich Gedanken über die Sicherheit des Fluges zu machen. Am Horizont türmen sich weiße bauschige Wolken auf. Vielleicht können wir doch nicht fliegen? Immerhin werden die Mittags- und Nachmittagsflüge häufig wegen schlechten Wetters gestrichen. Und auch wenn wir fliegen dürfen, wie häufig stürzen diese Miniflugzeuge ab? In meinem Bauch breitet sich ein flaues Gefühl aus und mein Herz macht ein paar ängstliche Sprünge. Ich drehe mich um, von hinten strahlt mich Christian an.

Comment now!
















Trackbacks