Unser Wagon ist fast ausschließlich mit jungen Touristen gefüllt. Ja, wir fahren nach Goa! Eigentlich stand der (im Vergleich) winzig kleine Bundesstaat Indiens gar nicht auf unserem Reiseplan, da wir uns feiernde Abiturienten, bekiffte Israelis, sonnenverbrannte Engländer und ohrenbetäubenden Goa-Trance die ganze Nacht ersparen wollten. Da wir nun aber schon mal auf dem Weg nach Süden sind, haben wir halt mal einen einwöchigen Zwischenstopp in dem legendären Hippierefugium eingeplant. Als Abstiegsort haben wir uns erst die Hauptstadt Panjim und dann das Fischerdorf Agonda, das angeblich noch wenig touristisch entwickelt ist, ausgesucht. Wir sind gespannt wie’s wird!

Gleich zu Beginn lernen wir die Österreicherin Sigrit, kurz Sigi, kennen. Sie erntet gleich meinen ganzen Respekt als sie berichtet, dass sie allein durch Indien reist. Sie hat, im Gegensatz zu uns, noch keine konkreten Pläne wo sie in Goa den Zu verlassen will, ist aber unserer Meinung, dass 24 Stunden Party nicht unbedingt sein muss.

Da es noch ziemlich früh am Morgen ist und alle die vergangene Nacht nicht besonders viel geschlafen haben, zieht sich einer nach dem anderen auf seine Pritsche zurück. Wir schlafen bis Mittags und verbringen den Rest des Tages damit aus den Fenstern die tropisch trockene Landschaft zu betrachten. Am frühen Abend erreichen wir dann endlich Panjim. Sigi ist immer noch unschlüssig. Wir verlassen den Zug und schwups, da springt sie ebenfalls mit ihrem Rucksack auf den Bahnsteig. Jetzt sind wir also wieder zu dritt! Wir suchen uns eine Autorikscha und verhandeln nicht lang, sondern lassen uns vom Fahrer, der Andeutungen macht, uns in ein ganz anderes Hostel zu bringen als wir wollen, in die Innenstadt fahren. Wir haben im Bharat Guesthouse reserviert, Sigi bekommt das Zimmer nebenan.

Obwohl unser Zimmer für seinen Preis recht spartanisch eingerichtet ist, die Matratze steinhart ist und es penetrant nach Klostein stinkt,  werden wir sogleich euphorisch als wir die Dusche im eigenen Bad ausprobieren. Diese Dusche ist unbestreitbar die beste Dusche, die wir auf unserer ganzen Reise hatten: Super einzustellen, wunderbar warm und (vor allem!) soooo VIEL Wasser! In den nächsten Tagen nutzen wir jede Gelegenheit, um zu duschen!

Und Gelegenheiten ergeben sich viele. Das Klima hat sich wieder geändert. Im Vergleich zu Mumbai ist es noch wärmer geworden, am Abend sitzen wir glücklich und verblüfft in kurzen Ärmeln in einem portugiesisch wirkenden Restaurant.

IMG_7848 (Small)

Sigi ist viel zu warm angezogen, freut sich aber trotzdem. Viva Panjim!

Das ist auch kein Zufall, denn Goa war lange eine Kolonie Portugals, und so gibt es in der Stadt viele typisch portugiesische Kirchen im barocken Stil zu besichtigen. Das sparen wir uns jedoch für den nächsten Tag auf, wenn wir Zeit haben die Stadt zu erkunden.

IMG_7849 (Small)

Gassen von Panjim.

Dummerweise ist der folgen Tag jedoch ein Sonntag. Und wie es sich für eine anständige katholische Stadt gehört, ist am Sonntag absoluter Ruhetag. Beim Frühstück wird uns das bewusst als wir in einem empfohlenen Restaurant essen wollen: Sonntags geschlossen. Das haben wir in ganz Indien noch nicht (und seit Deutschland sowieso nicht mehr!) erlebt. Na gut. Zum Glück hat ein indisches Restaurant auf. Wir lassen uns in dem wuseligen Lokal unter Abkühlung spendenden Ventilatoren nieder und bestellen Lassis, Sandwiches und Omelette. Doch letzteres sieht auf den ersten Blick sogleich verdächtig aus. Wir kosten und stellen fest: Da ist gar kein Ei drin! Als wir den Kellner darauf hinweisen erklärt er in selbstverständlichem Ton, dies sei ja auch ein “Pure Veg” Restaurant. Da gäbe es nun mal keine Eier. Was dann ein Omelette auf der Speisekarte zu suchen hat, kann er uns dann aber auch nicht so recht erklären. Wieder ein bisschen schlauer beenden wir unser Frühstück und beginnen dann mit unserer Stadtbesichtigung.

IMG_7853 (Small)

Church Square – Herzstück der Stadt.

Uns fällt auf, dass die Stadt wie ausgestorben wirkt. Tatsächlich ein bisschen wie an einem Sonntag. Es ist unglaublich heiß in der Sonne aber angenehm leer auf den Straßen.

IMG_7856 (Small)

Church of our Lady of Immaculate Conception. Übersetzt irgendwas Unbefleckte Empfängnis, oder so ähnlich.

IMG_7864 (Small)

Im historischen Viertel Fontainhas befinden sich viele Häuser in romantischem Verfall.

IMG_7868 (Small)

Andere hingegen sind wunderbar renoviert..

IMG_7870 (Small)

Kapelle St. Sebastian.

IMG_7872 (Small)

So oder so ähnlich muss es wohl auch in Portugal aussehen.

IMG_7877 (Small)

Einen hinduistischen Tempel mit Hanuman als Beschützer gibt es natürlich auch.

IMG_7883 (Small)

Wir laufen immer weiter, bis wir wieder am Meer sind. Natürlich wird auch hier nicht (oder nur mit Kleidung) gebadet. Wir setzen uns in den Sand und beobachten das Treiben.

IMG_7886 (Small)

Hafenmündung Panjims.

IMG_7889 (Small)

IMG_7892 (Small)

Wir sind zwar in Goa, aber hier ist von nackter Haut keine Spur!

Immer wieder müssen wir für Fotos posieren. Jeder Inder will sein eigenes Bild mit uns. Irgendwann reicht’s uns und wir gehen wieder.

Auch am Abend erleben wir unser sonntägliches Wunder. Als wir wieder ins “Viva Panjim” wollen, finden wir dort nichts als verschlossene Türen und Fenster und erloschene Leuchtreklame. Also kehren wir wieder zurück ins “Vihar”, das Pure Veg Restaurant (vegan ist jedoch nicht die richtige Übersetzung, denn Milch, Joghurt und Käse gibt es), und essen uns an den köstlichen indischen Gerichten satt.

Am Abend läuft auf unseren Fernseher im Luxuszimmer “Slumdog Millionaire”. Den Film schauen wir nun schon zum dritten Mal auf unserer Reise. Am Ende warte ich darauf, dass sich das gewohnt bedrückende Gefühl einstellt, das mich nach dem Film immer überkommt. Doch diesmal bleibt es aus, ich fühle mich sogar fröhlich und freue mich über die Bollywood-mäßigen Tanzeinlagen zum Schluss. Plötzlich wird mir bewusst, dass unsere Reise durch Indien und die damit verbunden Erfahrungen, meine Wahrnehmung der thematischen Schwerpunkte des Films, wie Armut, Kinderarbeit, auf der Straße oder von der Hand in den Mund leben, bereits verändert hat. Ich habe gesehen wie Menschen auf den dreckigen Bürgersteigen schlafen. Ich habe dreckige und stinkende Kinder gesehen, die an meiner Hose oder meinem Arm zupfen und mich anbetteln. Ich habe die Kloaken vor Mumbai und Delhi und allen anderen Städten blubbern gesehen und erinnere mich an ihren Geruch. Ich habe Kühe mitten über die Straßen laufen sehen, Hunde, die sich das Fell von der Haut kratzen und Welpen, die verzweifelt in einen Kuhfladen beißen oder aus der schlackigen Gosse trinken. Mit all diesen Bildern und Eindrücken im Hinterkopf kann ich mir plötzlich gut vorstellen, wie sich Kinder, die ihre Eltern verloren haben, in einem Land wie Indien durchschlagen und finde es auf einmal gar nicht mehr so unmöglich. Ich habe gelernt, dass es oft einfach so ist und es keine Alternative gibt. Außer die eine: Auf der Straße zu sterben. Diese Erkenntnis erschreckt mich. Doch ich kann zu keinem anderen Schluss kommen, als dass es tatsächlich einfach so ist. Indien ist so. So ist Indien.

Am Montag lernen wir Panjim von seiner alltäglichen Seite kennen. Um 10 Uhr müssen wir unser Zimmer räumen, wir haben nur zwei Nächte gebucht. Heute soll es mit dem Bus weiter in den Süden gehen, an den Strand, endlich! Vor dem Frühstück schicken wir erst mal unsere klobigen Wanderstiefel und noch ein bisschen Krimskrams nach Hause. Ein ganz schöner Akt: Wir werden von einem zum nächsten, zum übernächsten und wieder zurück zum ersten Schalter geschickt, alles müssen wir einzeln besorgen, dann wird das Paket eingeNÄHT von einem “Paketschneider”, gewogen und endlich frankiert (die günstigeren Varianten werden uns natürlich zunächst verschwiegen und wir müssen penetrant nachfragen, um zu erfahren, dass es doch möglich ist das Paket zu verschiffen).

IMG_7895 (Small)

Unser Paketschneider mit geübter Präzision am Werk. Das letzte Stück wird von Hand erledigt.

Sechs Kilo leichter geht es dann endlich zum Frühstück. Heute hat auch die Empfehlung wieder auf.

IMG_7910 (Small)

Endlich frühstücken. Auf kleinem Privatbalkon.

Dann habe ich noch eine Mission zu erfüllen: Einen Bikini kaufen! Obwohl wir bis jetzt noch keine Sonnenanbeter in Bikini und Speedo-Höschen gesehen haben, hoffen wir doch, dass es in den Urlaubsorten von Goa kein Problem sein sollte sich im Bikini an den Strand zu legen. Und da ich bisher noch keinen gebraucht habe, fehlt dieses wichtige Kleidungsstück noch in meinem Reisekleiderschrank. Auf den Straßen begegnet uns das ganz normale Verkehrschaos: Busse, Motorräder, Autos, Fußgänger und alle hupen (bis auf die Fußgänger, die schlängeln sich gelassen zwischen den anderen Verkehrsteilnehmern hindurch). Es ist heiß. So heiß, dass wir von einem Schatten zum nächsten flüchten und wir jedes Mal einen angenehmen Kälteschock bekommen, sobald wir ein klimatisiertes Geschäft betreten. In einem Sportgeschäft hoffe ich fündig zu werden. Doch das Angebot ist minimal, altmodisch und eher auf kleine indische Frauen und Kinder zugeschnitten. Ich reiche einen Zweiteiler nach dem anderen mit den Worten “Too small” aus der Kabine und zwänge mich kopfschüttelnd in die nächsten Exemplare, die von Schildchen mit der Aufschrift “Size 164”, “For junior Females” oder “16 years” geschmückt werden. Die Drucke sind teilweise noch unmöglicher als die Größen: Aquariumdruck folgt Prilblumen. Der Schnitt variiert zwischen Oma und Lolita. Verärgert schmeiße ich das Handtuch und erkläre dem Verkäufer “I’m not a junior female anymore!”, dann ziehen wir schwitzend weiter. Von Nike (maximale Größe: 34), zu  Benetton (“don’t have”), zu Levi’s. Endlich finde ich einen wirklich schönen, schlichten Bikini. Das Größenlabel verrät “XL”, ich bin ermutigt ihn anzuprobieren, obwohl er eindeutig nicht Größe XL hat (oder habe ich meine Körperwahrnehmung komplett verloren??). In einer Umkleidekabine, in der das Licht nicht funktioniert, stelle ich im Stockdunklen fest: Der Bikini passt! Auch der Preis stimmt (heute ist 40% Rabatt auf alles und so kostet er nur noch 420 INR, also 6 €) und so schauen wir nur noch sporadisch in den umliegenden Geschäften, um (was uns eher bestätigt zuzuschlagen, denn im Angebot wäre noch ein rosafarbenes Satinmodell mit Rüschen oder eins aus Billigmaterial mit psychodelischem Hawaiiblumendruck). Wir kehren zum Levi’s Geschäft zurück – mittlerweile hat die komplette obere Etage keinen Strom und damit kein Licht mehr und so kommt es noch zu einer kurzen Schrecksekunde als mein auserwähltes Stück im Dunklen kurze Zeit nicht aufzufinden ist – doch dann halte ich schließlich meinen Glücksfund in den Händen. Einziger Nachteil: Das Oberteil hat keine Träger. Ein zu vernachlässigendes Detail…

IMG_7911 (Small)

Auftanken im Vihar.

IMG_7912 (Small)

So ein komplettes Thali bekommt man schon für 80 Rupees!

Mittlerweile ist der Mittag vorbei und geht in den Nachmittag über. Wir wollen raus aus der Stadt! Schnell noch was essen beim Vihar (leider machen alle Tailor gerade Siesta also gibt’s auch keine Träger für das Oberteil) und dann mit den Rucksäcken beladen auf zum Busbahnhof.

IMG_7915 (Small)

Hier erkennt man wieder die portugiesische Vergangenheit der Region.

IMG_7916 (Small)

Tschüss Bharat Lodge!

In der glühenden Nachmittagssonne schmelzen wir fast dahin und als wir unseren Bus nach Margao endlich gefunden haben, kleben unsere Klamotten schwitzig am Körper. Wir müssen noch etwa eine Viertelstunde im brütenden Bus in der prallen Sonne sitzen und warten bis der Fahrer endlich den Motor anschmeißt und wir Panjim hinter uns lassen.

Comment now!
















Trackbacks