Das erste was uns an Indien auffällt ist der Dreck. Indien und Nepal wird generell nachgesagt, dass sie sich sehr ähnlich seien, “same same, but different”. Ein Unterschied ist: In Indien sehen wir von der ersten Minute an mehr Dreck. Der Dreck ist auch intensiver als der in Nepal, quasi der perfekte Dreck. Mindestens 10 cm tiefe Dreck- und Matschlöcher tun sich seitlich des Weges auf (Christian misst es mit seinem Stiefel nach als er mitten rein tritt) und in der Gosse schwimmt eine dickflüssige bläulich schimmernde Brühe. Kaum haben wir indischen Boden betreten, steigert sich der Verkehrslärm zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen. Vielleicht was Sunauli nur so laut weil der Lärm aus Indien herüberschwappen konnte? Wir stapfen durch den Dreck: Hundehaufen neben Kuhfladen, Essensresten, Plastikmüll, Spucke, Erbrochenem, alles durcheinander und wir versuchen einen möglichst trockenen Pfad zu finden und gleichzeitig nicht überfahren zu werden. Erst lassen wir unsere Pässe und indische Visa von zwei ziemlich gelangweilt dreinschauenden Indern abstempeln, dann finden wir auch einen Busstand, an dem bereits mehrere Reisebusse abfahrbereit nach Gorakhpur stehen. Alle wollen uns in ihren Bus locken. Wir entscheiden uns für den, der am vollsten ist und am komfortabelsten aussieht. Unser Gepäck kommt aufs Dach. Im Innern können wir bequem aufrecht stehen, wieder ein Unterschied zu Nepal! Wir sind mal wieder die einzigen Weißen.

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Der perfekte Dreck vom sicheren Busfenster aus betrachtet.

Um 5 vor 11 Uhr geht es los, wir sind genau im Zeitplan. Der Bus hat ein ganz schönes Tempo drauf, so schnell sind wir schon lange nicht mehr gefahren. Wieder ein Unterschied zu Nepal. Wir fahren durch flache Landschaften, auch das haben wir lange nicht mehr gesehen. Draußen ist es nebelig. Wir denken an unsere Rucksäcke auf dem Dach und hoffen, dass es nicht regnet. Immer wenn wir durch ein Dorf fahren, kontrolliere ich in den Schaufensterscheiben, ob unser Gepäck noch drauf ist. Leider haben die wenigsten Geschäfte Scheiben… Das Leben auf der anderen Seite des Busfensters sieht dem der Nepalesen sehr ähnlich. Die Menschen leben in einfachen Lehm- oder Steinhäusern, sie haben Kühe oder Ziegen, die hier lustigerweise häufig Pullover tragen, Stroh trocknet zu Haufen aufgetürmt und Kinder spielen Ball oder Kricket. Trotzdem ist es irgendwie anders. Und wieder fällt mir der viele Dreck auf, der sich am Wegesrand auftürmt und die zum Überlaufen gefüllten Gossen.

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Ein Fluss ist eine praktische Mülldeponie.

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Blick aufs Land.

Die Vegetation ist ebenfalls anders als in Nepal. Wir sehen weniger Urwald, mehr Wiesen und Äcker, die von Hand bearbeitet werden. Es gibt riesig hohe Palmen, aber auch die niedrigen Bananenpalmen wie wir sie kennen. Sobald mich die Menschen am Wegesrand sehen, bleiben ihre Blicke wie gebannt an mir kleben. Die meisten lächeln überrascht, Kinder fangen an zu jubeln und zu grölen und winken mir zu, manche Männer starren mich einfach nur an. Mir fällt auf, dass die Frauen überwiegend traditionell in langen Röcken (eher ein langes Tuch, das um die Hüften geschlungen und dann quer über die Brust und Schulter geworfen wurde) gekleidet sind, die Männer hingegen sind irgendwo in den 70ern hängen geblieben: Schlanke ausgeblichene Schlaghosen, darüber ein fleckiges, ehemals hellgelb-blau karriertes Hemdes mit großem Kragen und: Ein Pollunder, in Ocker oder gallgrüner Farbe. Um das ganze abzurunden ein Schnurbart und ein Seiten- oder (noch schlimmer) Mittelscheitel.

Nach genau drei Stunden erreichen wir Gorakhpur, in drei Stunden geht unser Zug nach Delhi, da haben wir ja noch genug Zeit. Wir kämpfen uns durch den Verkehr in das heruntergekommene Bahnhofsgebäude und sehen auf einer Uhr, dass wir in Indien eine viertel Stunde früher haben als in Nepal, wieder 15 Minuten gewonnen, die wir allerdings wieder mit Warten verbringen werden…

Wir suchen den Schalter “Enquiries”, Anliegen, vor dem sich bereits eine drängende Traube Männer knubbelt. Anstellen gibt es hier anscheinend nicht. Jeder drängelt sich nach vorne, stellt hektisch seine Frage durch die runde Öffnung in der Plastikscheibe und wird sogleich von den anderen “Anliegern” zurück gedrängt. Mit diesem Prinzip benötigt jeder mehrere Anläufe, bis seine Frage beantwortet wird. Wir wollen unsere Wagennummer und unsere Plätze herausfinden und stürzen uns ins Gedränge. Mit unseren großen Rucksäcken und auch schon allein durch unseren Größenvorteil sind wir gleich ganz vorne am Fenster. Hinter der Scheibe sitzt eine beleibte und ziemlich entspannt aussehende Frau, die gelassen unseren Reservierungsschein in die Hand nimmt und uns mitteilt, dass wir auf die Aushänge der Reservierungen auf dem Bahnsteig warten müssten. In der Zwischenzeit werden die Drängler um uns herum ungeduldig, so lange steht sonst nie einer vor dem “Anliegen”-Fenster. Sie klopfen auf unsere Rucksäcke und versuchen uns beiseite zu drängen, aber keine Chance. Nachdem wir uns bedankt haben, lassen wir die Meute wieder weiter kämpfen.

Auf dem Bahnsteig finden wir dann auch tatsächlich die besagten Aushänge, nur leider nicht für unseren Zug. Also versuchen wir es mal bei der Touristeninformation. Dort erwartet uns ein freundlicher Mann mittleren Alters, der uns sofort in sein Büro und auf seine Couch winkt. Er hat anscheinend nicht genug zu tun und verwickelt uns als erstes in eine Unterhaltung über unsere Herkunft, Deutschland (dabei behauptet er München habe einen Hafen) und unsere Berufe, dann erst will er wissen womit er uns behilflich sein könne. Auch er findet die besagten Aushänge nicht und empfiehlt uns um halb fünf wieder zu kommen. Eine weitere Viertelstunde später können wir uns endlich von ihm losreißen, wir haben Hunger und so verlassen wir den Bahnhof und begeben uns zurück in den chaotischen Nachmittag.

Auf dem Weg zurück zur Straße fällt uns auf, dass es furchtbar nach Urin stinkt. Wir schauen uns um und bemerken die “öffentliche Toilette” für Männer: Eine ehemals weiß geflieste Rinne, in der eine gelblich schaumige Brühe schwimmt. Entweder es gibt gar keinen Abfluss oder er ist verstopft. Ich halte die Luft an.

Wir fragen bei mehreren Hotels am Straßenrand an, doch keines hat etwas zu Essen, dann finden wir endlich eins, in dem wir nach nach oben in eine Art Kantine geführt werden. Die Ventilatoren laufen auf Hochtouren um die feuchte Bettwäsche zu trocknen, die über die Stühle ausgebreitet ist – so trocknet das Hotel also seine Wäsche… Wir nehmen Platz, können uns endlich an einem eklig dreckigen Waschbecken die Hände waschen und auf einer vollgesudelten Toilette aufs Klo gehen und: Wir bekommen endlich etwas zu Essen! Internet gibt es in dem Hotel jedoch nicht und so müssen wir noch mal los ein Internetcafé finden. Wir fragen uns durch und finden dann auch eins, einen kleinen Raum in einer ziemlich dreckigen Nische zwischen Imbissständen, billigen Hotels und kaputten Autos. Auf dem Weg dorthin steigen wir über siffige Gräben und um Hundehaufen herum, direkt neben den Plastikstühlen der Imbissbesucher. Eine riesige Ratte verschwindet quiekend in einem Spalt in der Hauswand. Essen wird draußen zubereitet, Gemüse liegt auf dem Boden, Öl spritzt, Essensreste landen in der Gosse. Im Internetcafé erfahren wir, dass wir noch keine Antwort von unserem Couchsurfer in Delhi haben, dann müssen wir wohl in Delhi noch mal gucken.

Zurück am Bahnhof finden wir eine riesige Kuh, die es sich in einer von Urin fleckigen Ecke bequem gemacht hat. Wir besuchen wieder den Mann im Touristenbüro. Sofort sitzen wir wieder auf seiner Couch. Er freut sich, mit uns zu quatschen. Dann läuft er los und findet auch den Aushang mit unserer Wagennummer und unseren Plätzen, lässt uns aber nicht gehen, bis der Zug um kurz vor fünf endlich einfährt. Wir verabschieden uns, kaufen noch ein paar Snacks und Wasser und steigen in unseren Wagon.

Wir reisen erster Klasse, für den Anfang vielleicht ganz gut, und so finden wir ein geräumiges sauberes Abteil für vier Personen vor. Die Betten sind recht breit und Bettzeug und Handtuch sind frisch gechlort. Mit uns im Abteil reist ein etwas älterer indischer Geschäftsmann. Er wird versorgt von mehreren jüngeren Männern, die immer mal wieder im Abteil vorbeischauen, ihm Tee oder Essen bringen oder ihm seinen Koffer unters Bett schieben. Auch wir richten uns ein und ruhen uns ein wenig von dem anstrengenden Tag aus. Um 20 Uhr gibt es Abendessen: Reis mit Currysoße. Zum Nachtisch bietet uns der Geschäftsmann eine weiche weiße golfballgroße Kugel in wässriger Soße an. Er erklärt, dass sie aus Milch zubereitet ist, eine Art Joghurtkäse, der Rasgulla heißt, die Flüssigkeit ist süßes Rosenwasser.

Christian kommt mit dem feinen Herrn, der sich bereits in seiner Nachtgaderobe befindet (einem weißen Anzug mit feinen Verzierungen), ins Gespräch und findet heraus, dass wir hier mit dem Personalchef der indischen Eisenbahn reisen. Jetzt verstehen wir auch seine besondere Behandlung. Herr Amitabhat Khare, wie er sich vorstellt, erzählt uns von seinen Aufgaben bei dem weltgrößten Unternehmen und gibt uns Tipps für unseren Aufenthalt in Delhi. Dann gehen alle schlafen.

Am nächsten Morgen stehen wir viel zu früh auf. Eigentlich sollten wir um halb sieben bereits in Delhi ankommen, doch unser Zug hat einige Stunden Verspätung und so erreichen wir erst um neun Uhr den Bahnhof. Während alle auf unsere Ankunft warten, haben wir genügend Zeit uns noch ein bisschen mit Herrn Kharen zu unterhalten. Er spricht über die Beziehungen zwischen Indien und China und bemerkt, dass China durch seine kommunistische Führung Indien wirtschaftlich schon lange hinter sich gelassen habe. Er gibt auch zu, dass er sich vor China fürchte, obwohl er noch nie dort gewesen sei. Die Kombination aus Angst und Unkenntnis beunruhigt uns ein wenig. Dann sprechen wir über die indische Gesellschaft und über soziale Themen. Herr Kharen behauptet, jeder Inder habe einen Anspruch auf Einkommen (ob er damit eine Anstellungsgarantie oder eine Art Sozialhilfe meint, bleibt unklar). Bei einem Blick aus dem Fenster wird jedoch sofort klar, dass nicht alle Menschen in Indien Arbeit haben, oder wenigstens nicht genug dabei verdienen, um sich wenigstens ein Dach über dem Kopf leisten zu können. Immer wieder fahren wir an löchrigen Planen vorbei, die über auf dem Boden zusammengerollten Körpern gespannt sind. Wieder fällt uns der ganze Müll auf, der sich vor unserem Zugfenster stapelt. Wir sprechen das Thema an und er gibt zu, dass den meisten Menschen in Indien einfach die Bildung fehle, um mit Abfällen richtig umgehen zu können. Ja ja die Bildung, sagen wir, ist sie denn kostenlos in Indien? Ja, aber dennoch seien Anreize wie ein kostenloses Mittagessen notwendig, um Kinder aus ärmeren Haushalten in die Schule zu locken. Allein bei den Menschen sollte die Lösung für das Müllproblem Indiens jedoch nicht gesucht werden, da sind wir uns einig.

Endlich erreichen wir Delhi. Wir verabschieden uns von unserer Reisebekanntschaft und bekommen noch das Angebot uns jederzeit bei ihm zu melden. Dann sind wir wieder auf uns gestellt. Aber nicht für lange. Sofort nimmt sich ein junger Mann unserer an und lässt uns sein Handy mit Internetempfang nutzen, um unsere Couchsurfing Nachrichten zu prüfen. Diesmal haben wir eine Adresse von einem Couchsurfer im Postfach, wir schreiben sie uns auf und dürfen dann auch bei der angegebenen Handynummer anrufen. Der junge Inder Kashif führt uns noch vom Gleis über die Brücke runter zu den Rikshas und besorgt uns eine pre-paid Autorikscha. Der Vorteil bei pre-paid Rikschas ist, dass sie einen sicher an das Ziel bringen, zu dem man hin will und einen nicht einfach irgendwo rausschmeißen oder zu einem Hotel oder Geschäft fahren, von dem sie Kommission kassieren. Wir bedanken uns bei Kashif und treten unsere erste Autorikschafahrt an.

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Mal ein ganz neues Transportmittel: Autorikscha sind wir bisher noch nicht gefahren!

Der Verkehr und der Smog in Delhi sind überwältigend. Ungefähr so wie Ulaanbataar und Kathmandu zusammen. Sowieso fühlen wir uns ein wenig an Kathmandu erinnert. Alles läuft kreuz und quer, Menschen und Kühe laufen über die breiten Straßen, der Asphalt ist häufig löchrig. Unser Rikschafahrer muss mehrmals bei anderen Fahrern nach dem Weg fragen und bringt uns schließlich bis an den Rand eines verwinkelten Wohnviertels. Kaum ausgestiegen werden wir gleich von Passanten angesprochen und in die engen Gassen den Viertels geschickt. Wir laufen orientierungslos durch die Gegend und sprechen einen älteren Mann an, der uns deutet ihm zu folgen. Er führt uns durch das Viertel hindurch, vorbei an den neugierigen Blicken der Bewohner, und gleich wieder heraus an die Straße. Dort winkt er uns einen schmächtigen Fahrradrikschafahrer heran, der mit unglücklicher Miene unsere schweren Reiserucksäcke betrachtet. Er bekommt Instruktionen und wir versprechen ihm 30 INR (der Kurs ist hier 1 : 70, das heißt etwa 43 Cent) für die Fahrt. Also sind wir wieder unterwegs. Wir fragen uns wie lang das noch so weiter gehen soll, immerhin haben wir mittlerweile schon halb 11 und wir wissen nicht wie lange unser Couchsurfer noch zuhause auf uns warten wird. Wir werden wieder abgesetzt, diesmal ist der Rikschafahrer mit seiner Bezahlung, obwohl vorher ausgehandelt, nicht zufrieden und will mehr. Wir machen es wie beim letzten Mal: “Take it or leave it”, er nimmt das Geld mit vorwurfsvollem Blick und verschwindet. Wir dürfen wieder telefonieren, bzw. lassen den Besitzer des Telefons für uns anrufen. Wir sollen wieder zurück an die Straße gehen und vor dem Zaid College for Girls auf unseren Couchsurfer warten. Nach wenigen Minuten ist er auch schon da, ein junger Inder mit einem gut verständlichen Englisch. Er führt uns wieder rein in die Gassen des Wohnviertels und dann in seine Wohnung, die er mit noch drei anderen indischen Studenten teilt. Sein einer Mitbewohner ist ebenfalls zuhause. Wir betreten einen quadratischen Flur und werden gebeten unsere Taschen in einem kleinen Raum abzustellen. Auf dem Boden liegt ein großes Stofftuch ausgebreitet. Ist das unser Bett? Bitte nicht!, hoffen wir und ziehen unsere Straßenschuhe aus und tauschen sie gegen Latschen. Wir fragen uns warum, der Boden ist saudreckig. Dann werden wir ins Wohnzimmer gebeten, auf dem Boden eine Decke, in der Ecke ein Fernseher, auf dem ein Kricketspiel läuft, dahinter ein zusammengesunkener Stapel alter Zeitschriften. Als wir nach den Regeln des Lieblingssports der Inder fragen, sagen beide nur “It’s very difficult”, sie haben keine Ahnung. Das Wohnzimmer ist sogar noch dreckiger. Ist das unser Bett??? Wir brechen gleich wieder auf, haben noch nix gegessen und Riesenhunger! Zusammen mit Umar und seinem Mitbewohner laufen wir wieder zurück zur Straße, unsere Rucksäcke lassen wir in der Wohnung, obwohl uns beide langsam das Gefühl beschleicht, dass wir dort nicht schlafen werden.

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Familie Schwein beim Frühstück.

Der Weg in die Stadt wird ein weiteres Abenteuer: Erst müssen wir ein gutes Stück an der staubigen Straße entlang, vorbei an einer Müllkippe in der eine dreckige Schweinefamilie frühstückt, penetranten Rikschafahrern, abgemagerten Hunden und natürlich den ständig hupenden Autorikschas, den qualmenden Bussen und den mörderischen Lastwagen. Dann heißt es eine ziemlich breite Straße überqueren, drei Spuren auf jeder Seite und das bedeutet in Delhi ein Gewusel aus Fahrrändern, Motorrädern, Fahrradrikschas, Autorikschas, Bussen, Lastwagen, Kühen und Menschen, die alle im Slalom umeinander flitzend aus den drei Spuren schnell fünf oder sechs werden lassen. Wir passen eine Lücke ab, und rennen los. Aber für uns Halb-Mongolei-Nepalesen ist das keine Herausforderung. Auf der anderen Seite warten wir dann an einer echten Bushaltestelle, die penetrant nach Pisse stinkt, auf den Bus. Zum Glück haben wir unsere zwei Jungs dabei, die alles für uns regeln, uns in den richtigen Bus lotsen, uns Plätze zuweisen und an der richtigen Haltestelle wieder rauswinken. Christian unterhält sich mit dem interessierten Inder neben ihm, ich werfe mir schüchtern lächelnd Blicke mit der jungen Inderin neben mir zu. An der Metrostation quetschen wir uns aus dem überfüllten Bus und werden wie gewohnt von neugierigen Blicken verfolgt. Auf dem Bahnsteig der Metrostation werde ich von den Jungs in den Abschnitt “for women only” geschickt, gekennzeichnet durch rosa Aufkleber auf dem Boden. Diese Wagons ausschließlich für Frauen gibt es erst seit in Indien eine Frau – die Indierin Pratibha Patil – regiert. Für Frauen eine sehr angenehme Einrichtung, wie mir sofort klar wird. Das Abteil ist angenehm leer, es liegt ein frischer blumiger Duft in der Luft, Kinder spielen oder sitzen bei ihren Müttern und ich bekomme keine lüsternen Blicke. Stattdessen lächele ich mir mit den indischen Frauen und Mädchen zu, wir beobachten uns gegenseitig mit neugierigem Interesse. Die Frauen sind wieder hauptsächlich traditionell gekleidet in bunten und mit glitzernden Steinchen verzierten Gewändern. Sie tragen bodenlange Saris, die bis zu 10 Meter langen Tücher, die kunstvoll um die Hüften gewickelt werden und dann über die Schulter geworfen werden. Sie sind mit klimpernden Metallplättchen behangen und schleifen anmutig über den Boden. Zum Sari gehört ein freier Bauch, viele zeigen stolz ihren Bauchspeck, schlanke Bäuche sehe ich keine. Das Oberteil ist meist passend zum Rock. Diejenigen, die keinen Sari tragen, tragen einen sogenannten Salwar Kameez, eine locker fallende Pluderhose und ein dazu passendes langes Shirt, plus Schal. Die Oberarme sind immer bedeckt und ein Dekolleté kennen sie hier ebenfalls nicht. Auch bei den Damen im Sari, meist eher ältere (vielleicht nur verheiratete) Frauen, darf der farblich  passende Schal nicht fehlen. Entweder einfach vorne auf der Brust oder vor dem Hals liegend und hinten über die Schultern bis zur Hüfte oder weiter herunter hängend getragen, oder den Kopf bedeckend und locker über die eine Schulter geworfen. Die Tücher sind unterschiedlich verziert, manche mit aufwändigen und klimpernden Palletten, andere durchscheinend, wieder andere breite gemusterte Pashima- oder Kashmereschals. Die dunkle Haut der Frauen leuchtet im künstlichen Licht des Wagons, ihre großen braunen Augen sind tief und entspannt. Das Nasenpiercing, immer im linken Nasenflügel, ist obligatorisch und häufig prachtvoll aus Gold und mit vielen glitzernden Edelsteinen verziert. Die meisten Frauen tragen FlipFlops oder Sandalen, darin Socken und bei vielen wird jeden Schritt vom Klimpern der breiten Fußkettchen begleitet. Die indischen Frauen sind in meinen Augen so wunderbar natürlich schön. An ihren Blicken erahne ich, dass sie jedoch das Gleiche über mich denken.

Am Connaught Place, dem zentralen riesigen Kreisverkehr der Stadt ist unsere erste Metrofahrt vorbei und wir verabschieden uns von den zwei Jungs, die sich auf den Weg zur Uni machen. Der Connaught Place ist die bekannteste Shoppingmeile in Delhi, wenn es um westliche Marken geht. Wir laufen an Levi’s, Nike und anderen Markengeschäften vorbei und plötzlich stehen wir vor McDonald’s, der erste McDonald’s seit Shanghai! Nicht, dass wir so große Fans wären, aber wir merken doch wie uns die bekannte Umgebung anzieht: Pommes, Burger, McFlurry!! Wir haben Hunger und stehen schon in der Schlange. Obwohl man auch nicht wirklich von einer Schlange sprechen kann. Es ist ähnlich wie am Bahnhof von Gorakhpur, jeder stürmt nach vorne an die Kasse, hält der Dame seine Scheine vor die Nase und brüllt seine Bestellung. Als Westler bekommen wir zum Glück besondere Aufmerksamkeit von der hübschen Kassiererin und können in Ruhe bestellen und bezahlen. Leider haben wir unseren Computer nicht dabei, sonst könnten wir jetzt sogar kostenlos ins Internet! Wir beschließen bei unserem Couchsurfer noch heute auszuziehen, sofern wir eine neue Unterkunft finden. Mittlerweile ist es Mittag, wir haben zwei Stunden von der Wohnung bis in die Innenstadt gebraucht, und wir sind schon ziemlich k.o. Wir erinnern uns an unsere Reservierung in einem Hostel für die Nacht, wenn wir aus Agra zurück kommen. Dort könnten wir doch vielleicht unterkommen. Nur leider wissen wir die Adresse nicht und können so nicht einfach hinfahren. Also begeben wir uns auf die Mission ein Internetcafé zu finden. Orientierungslos laufen wir um den Connaught Place herum und werden alle paar Meter von einem Inder angesprochen, der uns entweder irgendetwas verkaufen will, uns eine Rikscha oder ein Taxi andrehen will oder der uns sagt wo wir uns gerade befinden oder seine Hilfe anbietet. Irgendwann geben wir zu was wir suchen und bekommen auch sofort gezeigt in welche Richtung wir laufen müssen. Kaum sind wir fünfzig Meter gelaufen, bekommen wir wieder Begleitung von einem jungen Mann, der wissen will wo wir hin wollen. Er begleitet uns, erzählt uns von seiner Arbeit, wo er wohnt und herkommt, dann übergibt er uns der Touristeninformation, die zufällig auf dem Weg liegt. Wir werden freundlich empfangen, “Where are you from? How long are you traveling in India? Where are you going next?”, wir lächeln erschöpft, diese drei Fragen – exakt in der Reihenfolge – haben wir heute bestimmt schon zehn Mal beantwortet. Leider gibt es kein Internet und Stadtpläne haben sie auch keine mehr, also weiter zum Internetcafé. Wir finden heraus wo das Hostel ist und finden auch heraus, dass noch Zimmer frei sind. Also nichts wie hin! Auf unserer rudimentären Karte aus dem Reiseführer sehen wir, dass wir auch zu Fuß gut hinlaufen können. Wir finden uns schnell auf einer riesigen Kreuzung wieder, zwischen Abgaswolken und hupendenden Verkehrsteilnehmern. Wir wurschteln uns durch und kommen an eine weitere Kreuzung. Wir fragen zwei Männer nach dem Weg, die uns in eine Seitenstraße schicken. Wir schauen wieder auf unsere Karte und versuchen über eine weitere, kleinere Seitenstraße zu unserem Ziel zu kommen. Aber natürlich macht die Straße mehrere Knicke, wird schmaler, leerer und endet schließlich in einer Sackgasse, wir laufen wieder zurück und ärgern uns. Unser erster Tag in Delhi und wir gurken nur blöd durch die Gegend ohne irgendetwas zu besichtigen. Aber wir sagen uns auch, dass wir so Delhi ja auch kennenlernen und zwar das “richtige” Delhi, nicht die Monumente, sondern die Straßen, in denen das Leben stattfindet. Wieder fragen wir Männer (Frauen wirken auf uns viel scheuer und auch ungebildeter als Männer und aus Angst sie in eine unangenehme Situation zu bringen, versuchen wir uns immer an gebildet aussehende Männer, sofern wir das überhaupt beurteilen können!, zu wenden). Wir haben das Gefühl, dass selbst wenn sie den Weg nicht wissen, sie uns immer irgendwohin schicken. Zu sagen: “Tut mir leid, aber ich hab keine Ahnung.”, das geht irgendwie nicht. Also sind wir skeptisch, aber einem besonders sicher wirkenden Mann folgen wir dann doch durch enge Gässchen und Hinterhöfe und finden uns dann tatsächlich auf der Straße, die wir suchen, dem Main Bazaar, wieder. Sofort kommen in uns Erinnerungen an Thamel in Kathmandu auf. Eine touristische Einkaufstraße mit Souvenirläden und aufdringlichen Verkäufern, hupenden Mopets und Rikschas. Wir folgen unserer Karte, haben aber erst Probleme das Hostel zu finden. Wir laufen mehrmals dran vorbei bis wir das kleine Schild endlich entdecken und in die furchtbar stinkende Seitengasse abbiegen. Wieder müssen wir einem Haufen Kacke ausweichen (ob von Hund oder Mensch ist nicht zu sagen) und durch Bäche aus Pisse laufen bevor wir das Hostel an einer Ecke erreichen. Wir fragen ob wir uns die Räume mal ansehen dürften was gleich ein wenig unfreundlich aufgenommen wird. Dann sprechen wir unsere Reservierung in ein paar Tagen an und der Ton wird ein bisschen netter. Trotzdem will man uns kein Zimmer zeigen und die Männer hinterm Tresen behaupten alle Zimmer seien belegt. Als wir sagen, dass wir im Internet aber etwas anderes gesehen hätten, wird die Stimmung gleich wieder frostig. Einen Moment später stehen wir wieder in der stinkenden Gasse und flüchten auf die chaotische Hauptstraße. Wir sind enttäuscht. Was jetzt? Wir laufen die Straße ein Stück weiter bis zum Hotel Relax, das wir bei unserer Suche vorher schon gesehen hatten. Wir fragen nach einem Zimmer. Zuerst will man uns eins für 1.200 INR andrehen, doch wir betonen, dass wir maximal 600 INR bezahlen werden, also geht er auf 800 INR runter. Wir besichtigen ein Zimmer, ganz nett aber nichts besonderes, und wollen uns schon verabschieden, da zu teuer, da ruft der beleibte Besitzer uns wieder zurück und bietet uns das Zimmer für 600 INR an. Leider sei das Zimmer, das wir besichtigt hätten schon belegt, daher bekämen wir ein anderes, das jedoch viel besser sei als das ursprüngliche. Wir wollen uns das andere Zimmer erst anschauen, es ist genauso gut. Als wir unsere Daten ins Hotelbuch eintragen, entschuldigt sich die Frau des Besitzers, sie müsse uns noch ein anderes Zimmer geben, auch das gerade besichtigte sei bereits reserviert, aber dieses sei nun wirklich das beste, betont sie. Wir stöhnen auf, also noch mal hoch, diesmal in den dritten Stock, unsere Beine sind so schwer wie nach sechs Stunden Trekken, wir wollen einfach nur Ausruhen! Auch das dritte Zimmer ist ok, wobei etwas dunkel und die Matratze durchgelegen. Egal, wir wollen nur die Schlüssel und dann unsere Sachen beim Couchsurfer abholen, das haben wir ja auch noch vor uns…

Wir bekommen den Schlüssel und verabschieden uns bis später. Diesmal laufen wir nicht zurück zum Connaught Place, sondern den Main Bazaar entlang zur New Delhi Station. Dort steigen wir in die Metro. Mittlerweile ist Nachmittag und die Metro ist voll. Die Frauenabteile sind ebenfalls gefüllt, mit Frauen und Männern. Also bleibe ich bei Christian und quetsche mich mit ihm zwischen die penetrant starrenden Männer. Ich fühle unangenehm beobachtet. Sobald ich den Männern in die Augen schaue, blicken sie entweder sofort weg, oder sie gaffen mich mit unbewegten Gesichtern an. Ich bin die einzige Frau weit und breit und mir wird zunehmend unwohl. An der nächsten Haltestelle springe ich raus und laufe zum nächsten Wagon, in der Hoffnung dort einen Frauenabschnitt vorzufinden. Doch stattdessen bin ich jetzt allein unter den gaffenden Männern, die mich mit ihren Blicken auszuziehen scheinen. Ich blicke starr aus dem Fenster und verschränke demonstrativ meine Arme vor der Brust und zeige meinen Ring, in der Hoffnung, dass sie ihn für meinen Ehering halten. Trotzdem bleibe ich der Blickfang des Wagons und fühle mich nicht gerade gut dabei. Endlich sind wir da. Wir laufen zur Straße. Zum Glück haben wir uns die Haltestelle aufgeschrieben, an der wir am Mittag eingestiegen sind. Wir sprechen mehrere Männer an, doch entweder sie verstehen uns nicht, oder sie behaupten da führe kein Bus hin. Vor allem ein Rikshafahrer will uns nachdrücklich davon überzeugen, dass dort kein Bus hinführe. Aber wir wissen es ja besser und schließlich finden wir einen kleinen heruntergekommenen Bus, der uns bis zur Haltestelle mitnehmen will. Wir quetschen uns auf die schmalen rudimentären Sitzbänke, der Bus füllt sich schnell und bald passt keiner mehr rein. Wir sind froh als wir wieder aussteigen können. Nun noch das Stück Dreckstraße mit Müllkippe und Hupen. Wir finden die Wohnung sofort, diesmal haben wir uns den Weg genau eingeprägt. Der Schlüssel ist draußen deponiert, das hatte man uns vorher gezeigt, keiner ist zuhause. Wir packen schnell unsere Rucksäcke zusammen, schreiben einen Brief mit Erklärung und machen uns aus dem Staub. Zurück auf die Straße, durch den mörderischen Verkehr auf die andere Seite und warten auf den Bus. Sofort hält der kleine Klapperbus, der uns vor einer halben Stunde hier abgesetzt hatte, der Busbegleiter winkt uns lächelnd rein. Diesmal mit unseren Taschen ist der Bus zum Glück nicht so voll. Christian unterhält sich mit einem jungen Inder, der auf der Durchreise nach Kolkata (Kalkutta) ist. Diesmal begebe ich mich gleich in den Frauenwaggon und bin froh über meinen Sitzplatz. Es fällt mir schwer das Lächeln der Frauen zu erwidern, ich fühle mich dreckig und ziemlich k.o.

Vier Stunden nachdem wir aus unserem neuen Zuhause aufgebrochen sind, tauchen wir bepackt wieder auf. Wir beziehen unser Zimmer und schmeißen uns aufs Bett. Eine Aufgabe bleibt uns für heute noch: Abendessen. Das machen wir nach einer Stunde Ausruhen direkt nebenan in einem kleinen Imbiss direkt an der Straße. Dann ist es Zeit endlich Schlafen zu gehen. Unser erster Tag in Delhi hatte es ganz schön in sich. Morgen wollen wir es ruhiger angehen lassen…

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Blick vom Gemeinschaftsbalkon auf die Straße. Zum Glück geht unser Zimmer nach hinten raus…

Wir schlafen uns aus und frühstücken auf der Terrasse unseres Hotels. Unsere Unterkunft ist im Kolonialstil mit Marmorböden, schwerer Dekoration und dunklem Holz gehalten. Auf jedem Stockwerk stehen metallene Elefanten, Schildkröten und wuchtige Holztruhen herum, die das Hotel etwas überladen wirken lassen. Früher sicher mal ein recht schickes Hotel, wirkt es heute ein wenig heruntergekommen und renovierungsbedürftig. Auf der Marmorterrasse mit Marmorbrüstung lernen wir Yvonne aus Australien kennen. So verbringen wir quatschend den Vormittag. Dann packen wir unsere Sachen für ein riesiges Paket. Sieben Kilo haben wir zusammengetragen, die jetzt in die Heimat verschickt werden sollen. Darunter unsere Daunenjacken und -schuhe, unsere dicken Mützen, Handschuhe und Schals und natürlich eine Menge Souvenirs und Mitbringsel. Über eine steile, enge und ziemlich dreckige Treppe erreichen wir ein Postbüro direkt gegenüber unserem Hotels, vor dem sich verwundert dreinschauende Inder tummeln. Leider werden in diesem Postbüro keine Pakete solcher Größenordnung verschickt. Ein Junge, der als Laufbursche eingesetzt wird, führt uns zurück auf die Straße und zu einem anderen Büro, auf dessen Tür DHL, TNT usw. angeschrieben steht. Als er uns abgeliefert hat, steht er scheinbar erwartungsvoll vor uns, will er jetzt Geld von uns? Eine ähnliche Situation hatten wir am Abend vorher in unserem Hotelzimmer, als uns der Laufjunge des Hotels Handtücher gebracht hatte. Wir hatten ihn mehrmals gefragt was er noch wolle, doch als wir Geld anboten hatte er abgelehnt und war dann wortlos verschwunden. Wir kramen drei Münzen raus, drei Rupien sollten doch ok sein, oder? Doch der Junge ist schon wieder in der Menschenmenge verschwunden. Im Postbüro werden wir sehr freundlich und kompetent beraten. Wir entscheiden uns für den schnelleren und sichereren Versand unserer Sachen über DHL. Indische Post wäre bei gleicher Lieferdauer genauso teuer, der Mann hinterm Schreibtisch gibt jedoch zu, dass nur 90% der Pakete ihr Ziel erreichen, für uns eine zu geringe Sicherheitswahrscheinlichkeit. Wir holen unsere Sachen und stellen sie auf die Waage. Da wir nicht genügend Geld haben, laufe ich los zum nächsten Automaten, Christian bleibt bei den Sachen. Ich muss ein ganzes Stück die Touristenstraßen entlang laufen und werde von jedem Ladenbesitzer angequatscht ob ich nicht ein Henna-Tattoo will, neue Ledersandalen, einen Schlafsack, Schmuck oder eine Massage. Andere versuchen meine Aufmerksamkeit zu bekommen, indem sie meine Nationalität raten: “Bonjour Madamme!”, “You’re from Switzerland, right?”, “Russia, I see!”, aber ich laufe nur lächelnd und im zügigen Tempo an ihnen vorbei. Zurück im Büro heißt es dann nur noch Adresse ausfüllen, zahlen, fertig.

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In der Seitengasse bekommt eine ganz normale Fleckenkuh ihr Mittagessen.

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Die heilige Kuh muss dagegen arbeiten.

Als nächstes wollen wir uns eine Sim-Karte besorgen damit wir endlich wieder telefonieren können. Als Nicht-Inder ohne permanente Anschrift eigentlich unmöglich, aber natürlich kann man uns im Hotel aushelfen. Wir müssen unsere Pässe für Kopien abgeben, 500 INR zahlen (300 INR für die Karte, 200 INR Guthaben) und können eine halbe Stunde später telefonieren. Mittlerweile ist es wieder Nachmittag geworden. Wir beschließen die Altstadt zu erkunden. Vorbei an der New Delhi Station passieren wir wieder eine öffentliche Toilette (natürlich nur für Männer): Eine gekachelte Wand, vor der die Pissbäche schäumend auf die Straße fließen. Wir überqueren eine unübersichtliche Kreuzung und verlieren die Orientierung. Auf einmal sehen wir keine Frauen mehr. Ich bedecke meine Haare, Old Delhi ist noch muslimischer als der Rest Delhis. Von mehreren Männern bekomme ich lüsterne Blicke, sie glotzen mich mit offenem Mund an, fehlt nur noch, dass sie sabbern. An einer weiteren Kreuzung blicken wir wieder orientierungslos in unser Buch. Plötzlich werden wir von einer Frau angesprochen, die uns helfen will. Das ist uns noch nie passiert! Wir nehmen ihre Hilfe dankend an, wir sind ganz woanders als wir dachten…

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Im Showroom der aktuellen Ziegenmodenkollektion. Zu sehen hier die neuesten Reissackmodelle!

Wieder auf den richtigen Weg geschickt tauchen wir ein in die lebendigen Gassen von Shahjahanabad, der Altstadt, benannt nach ihrem Erbauer Shah Jahan, von dem auch das Taj Mahal erbaut wurde. Ein Laden reiht sich an den anderen. Hier wird alles Mögliche angeboten: Schmuck, Kleider, Essen. Die Leute schauen uns wieder mit einer Mischung aus Überraschung und Neugierde nach, meine Blicken kreuzen die von Frauen, deren Augen alles sind, was ich von ihnen unter ihrer Ganzkörperburka sehen kann. Kinder bleiben erstarrt stehen, Mütter machen aufgeregt ihre Kinder auf uns aufmerksam und drehen ihre Köpfe, damit sie noch einen kurzen Blick auf uns erhaschen können, bevor wir wieder im Gedränge verschwinden. Noch etwas fällt uns auf: Im Vergleich zu den meisten Indern sind wir Riesen. Wir haben einen tollen Blick über die Menge, aber wir übersehen auch manchmal ein Kind, das wie ein Zwerg aus dem Nichts heraus plötzlich vor uns auftaucht. Wir erreichen Jama Masjid, die größte Moschee Delhis, im Zentrum der Altstadt. Wir steigen die roten Sandsteinstufen zum Eingang hinauf, nur um zu erfahren, dass wir in einer halben Stunde wiederkommen sollen, die Moschee ist gerade für Nicht-Moslems geschlossen: Gebetszeit. Also gehen wir in einem kleinen Restaurant gegenüber etwas essen. Christian bestellt, ich werde gar nicht gefragt, dann bekommen wir beide das gleiche. Besteck ist gar nicht erst dabei, also waschen wir unsere Hände und greifen zu. Natürlich nur mit rechts! Die Linke darf ausschließlich beim Festhalten von Brot zum Einsatz kommen. Im Hintergrund singt der Muezzin. Das Essen ist einfach aber unglaublich lecker

Nach dem Essen ist auch die Mosche wieder für uns zugänglich. Wir ziehen vorschriftsmäßig unsere Schuhe aus und unterschlagen den Fotoapparat, den ich in meiner Hosentasche versteckt halte (ein Mann würde mich jedoch nie abtasten), und sparen uns so die 100 INR. Der Innenhof der Mosche ist beeindruckend und strahlt eine angenehme Ruhe aus. Wir schlendern ein wenig auf und ab und erholen uns von dem strapaziösen Hinweg.

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Jama Masjid.

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Hier wird gebetet.

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Dann verlassen wir die Ruhe wieder und begeben uns in Richtung Red Fort, Lal Qila, einem noch älteren Stadtteil Delhis.

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Leider ist die Rote Festung bereits geschlossen und wir müssen wieder gehen.

Diesmal wählen wir eine andere Route zurück. Entlang einer großen Straße Chandni Chowk blicken wir in die Schaufenster der Geschäfte, in denen überall überladener Brautschmuck, natürlich alles unecht, angeboten wird.

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Alles für die Braut!

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Plötzlich stehen wir wieder vor einem McDonald’s. Die Gelegenheit auf einen McFlurry lassen wir uns nicht entgehen!

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Blumenkränze für die Götter.

Als es dunkel wird biegen wir in eine Seitenstraße, in Richtung New Delhi Station. Wieder befinden wir uns auf einer belebten Einkaufsstraße. Wir bemerken, dass überall das Gleiche angeboten wird: Brautmode. In Indien ist Hochzeitssaison.

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In kleinen Läden sitzen Männer und Frauen auf dem mit Laken ausgelegten Boden, quatschen oder schauen sich die vielen verschiedenen, schlichten, seidigen, durchschimmernden, glänzenden oder verzierten Stoffe an, aus denen die Brautrobe gemacht wird. Die Menschen sind beschäftigt und aktiv. Wir haben Spaß ihnen dabei zuzusehen.

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Die Auswahl des richtigen Stoffes ist eine wichtige Angelegenheit!

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Wir laufen wieder ein wenig kreuz und quer, dann aber zurück auf die Straße bis wir eine weitere Kreuzung erreichen. Zielstrebig steuern wir einen Stand an, in dem Süßigkeiten verkauft werden. Wir entdecken gleich die Rasgullas, die Käsejoghurtbällchen in Zuckersaft von unserer Zugfahrt nach Delhi. Wir kaufen uns eine Auswahl und schlendern weiter.

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Hauseingang.

Das Angebot der Geschäfte ändert sich. Nun befinden wir uns in der “Baumarkt-Straße”, wie uns scheint. In den vielen hundert Läden werden Sachen angeboten wie Sägen, Metall und Stahl, Schrauben und anderes Werkzeug. Ein paar Seitenstraßen weiter sind wir im Sanitärbereich angelangt: Es werde Wasserhähne, Duschen und Toiletten ausgestellt. Wir sind verblüfft, ein riesiges Kaufhaus, nur in Form vieler ähnlicher Läden, jeder spezialisiert auf ein bestimmtes Produkt.

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Langsam gehen auch die Straßenfeuer an.

Wir erreichen wieder New Delhi Station, laufen mit angehaltenem Atem an der öffentlichen Toilette vorbei, müssen die Gleise des Bahnhofs überqueren (eine Unterführung gibt es nicht, dabei wäre die wirklich sinnvoll, immerhin verläuft unterhalb des Bahnhofs die Metro, trotzdem fehlt eine Verbindung), dann noch den Main Bazaar entlang und ab nach Hause. Heute brauchen wir nichts zum Abendessen, wir sind satt und habe ja auch noch unsere Süßigkeiten.

Unser dritter Tag in Delhi und wir wechseln wieder die Unterkunft. Wir haben am vergangenen Abend einen Anruf von einem anderen Couchsurfer erhalten, der uns erst zugesagt hatte, dann aber nicht mehr geantwortet hatte. Jetzt hat er ein schlechtes Gewissen und will uns unbedingt bei sich aufnehmen. Also packen wir nach dem Frühstück auf der Marmorterrasse wieder unsere Taschen zusammen (jetzt sind sie ja zum Glück federleicht!) und verlassen unser Hotel. Wieder treffen wir die dumme Entscheidung zu laufen. Metro halten wir für übertrieben, immerhin sind es nur drei Stationen, und auf der Karte sieht es wirklich einfach aus. Doch natürlich ist es das nicht. Zuerst sind wir noch ganz zuversichtlich. Entlang einer riesigen Straße kann ja nichts schief gehen. Dann verändert sich die Umgebung und die Straße wird kleiner. Wir fragen erneut nach dem Weg und werden wieder zurück geschickt. An der letzten Kreuzung hätten wir links abbiegen müssen, erklärt uns der Mann, der es unglaublich eilig hat. Wir sind verwirrt, auf unserer Karte sieht es ganz anders aus. Aber wir haben ja schon gelernt, dass wir uns nicht zu sehr auf Karten verlassen sollten und folgen dem Rat des Mannes. Die Straße, der wir nun folgen, ist noch breiter und der Verkehr schnürt uns die Kehlen zu. An einer chaotischen Kreuzung werden wir von den Autos und Motorrädern an den Rand gedrängt, einen Gehweg gibt es nicht mehr. Wir fragen erneut und müssen wieder links abbiegen. Nun fragen wir alle paar hundert Meter und erreichen auch endlich eine Metrostation. Leider jedoch nicht diejenige, zu der wir wollen, sondern die davor. Nach einer Stunde Umherirren reicht es uns mit dem Smog und dem Lärm und wir setzen uns in die Bahn. Eine Station später sind wir am Ziel. Aber die Adresse müssen wir noch finden. Wieder fragen wir uns durch, werden in die eine Richtung und dann wieder zurück geschickt. Schlussendlich geraten wir endlich an einen ortskundigen Anästhesisten, der uns bis an eine Ecke begleitet, von der aus er auch nicht mehr weiter weiß, unseren Couchsurfer anruft und mit uns wartet bis dieser auftaucht. Rishi erzählt uns später, dass der Arzt ihm gedroht habe uns mit zu sich nach Hause zu nehmen, sollte Rishi nicht auftauchen oder zu lange brauchen. Er nimmt uns mit in sein Appartement, das er sich mit Hang, einem Chinesen, teilt. Hang hatten wir auch ursprünglich über Couchsurfing angeschrieben, doch da er gerade in China ist können wir in seinem Zimmer schlafen. Die Wohnung ist auf den ersten Blick eine deutliche Verbesserung zu unserer ersten Unterkunft, dennoch ist es so dreckig wie es nur in einer Männer-WG sein kann, das Klo erinnert uns an eine dreckige Autobahntoilette. Doch Rishi ist unglaublich nett und sein Englisch so “indisch”, dass wir nur jedes fünfte Wort verstehen. Er macht uns gleich einen leckeren süßen Milchtee (klassischer indischer Chai) und fragt uns interessiert aus. Wir verschnaufen eine Stunde und machen uns dann wieder auf dem Weg zum India Gate, einer der Hauptattraktionen in Delhi. Von Connaught Place aus wollen wir laufen. Die Strecke zieht sich ganz schön hin und am Ende sind wird ziemlich enttäuscht von dem relativ kleinen und unbeeindruckenden Tor, das uns an eine Miniversion des Arc de Triomphe in Paris erinnert.

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Soldat vorm India Gate.

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Zwei Turbanträger blicken erwartungsvoll.

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Passanten.

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Er posiert gern für mich.

Vom India Gate ausgehend befindet sich der große Rajpath, die königliche Promenade. Doch anstatt einer Shoppingmeile finden wir nichts, nur ein Sandweg und Wiese. Wir biegen wieder ab und erkunden das Viertel der Museen und Ministerien. An einer Straße erblicken wir plötzlich einen Affen, der aus dem Gras des Seitenstreifens ein paar Nüsse oder Früchte aufhebt. Wir bleiben gespannt stehen, Stadtaffen! Zu dem Affen gesellt sich ein zweiter, dann ein dritter mit einem kleinen auf dem Rücken. Schnell ist der Seitenstreifen und die Bäume darauf bevölkert von einem ganzen Rudel Affen. Die größeren keifen sich gegenseitig an und scheuchen die Kleinen davon.

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Stadtaffen.

Einer von ihnen sitzt plötzlich neben uns, wir könnten ihn anfassen. Plötzlich wendet sich das Blatt: Der Affe zeigt uns seine spitzen Zähne und kommt auf uns zu, wir weichen erschrocken zurück, ein zweiter greift an, kreischt und rennt flink auf uns zu, uns bleibt nichts übrig als sofortige Flucht! Die Affen scheuchen uns noch ein Stück den Gehweg entlang, wir laufen mit klopfenden Herzen davon. Zum Glück ist nichts passiert. Ein Affenbiss hätte uns gerade noch gefehlt!

Zurück in der Metro sind wir wieder in Sicherheit und fahren zurück zu Karol Bagh, der Station an der Rishi wohnt. Wir befinden uns anscheinend in einem ganz guten Mittelklassewohngebiet und schlendern über die Einkaufsstraße. Wieder erblicken wir einen McDonald’s, diesmal verkneifen wir uns das Eis, immerhin wollen wir später noch mit Rishi essen gehen. Bei einem Goldjuwelier kaufe ich mir ein neues Piercing, mit dünnem langem Stab, das mir nicht mehr rausfallen kann.

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Hier gibt’s dann auch die Robe für den Bräutigam.

Dann kehren wir zu Rishi zurück und müssen vor seiner Tür eine halbe Stunde auf ihn warten. Wir legen nur kurz ein paar Sachen ab, dann gehen wir schon wieder los zum Abendessen. Mittlerweile hat es angefangen zu regnen. Rishi führt uns zu seinem Lieblingsrestaurant, in dem wir von ernsten Männern mit weißen Gewändern und orangenen Turbanen bedient werden und wieder mit den Händen essen.

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Dal Bhat Deluxe! In Indien heißen diese Essens-Sets Thali.

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Rishi erklärt uns alles ganz genau.

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Zum Abschluss noch was für die Verdauung: Grün = Anis, Weiß = Zucker, Gelb = ?.

Das Essen ist köstlich aber scharf. Am Ende sind alle satt und zufrieden.

Zurück in der Wohnung quatschen wir noch ein bisschen mit Rishi, der uns einen kleinen Vortrag über die Götter des Hinduismus hält, dann fallen wir totmüde ins Bett.

Wir schlafen wieder aus und gehen dann mit Rishi spät frühstücken. Christian bekommt die Kricket Regeln erklärt und Rishi sorgt dafür, dass wir in eine Autorikscha kommen, die uns zum Bahnhof fährt. Mit nur einem Reiserucksack ausgerüstet machen wir uns am frühen Nachmittag auf den Weg zu unserem Zug nach Agra, der Stadt, in der das Taj Mahal, das Marmormausoleum von Mumtaz Mahal, zu besichtigen ist. Zuerst stecken wir im erbarmungslosen Verkehr Delhis fest. Zum Glück sind wir 1 1/2 Stunden vor Abfahrt unseres Zuges aufgebrochen, obwohl die Strecke relativ kurz ist. Wir sitzen in der offenen Autoriksha zwischen Bussen, Rollern, Motorrändern, Autos und anderen Rikschas fest. Am schlimmsten sind die Busse, die ihre heißen Abgaswolken direkt in unsere Gesichter blasen. Ich verdecke mein ganzes Gesicht unter meinem Schal und bekomme dennoch kaum Luft. Nach einer Stunde sind wir endlich da.

Entspannt stellen wir uns an unser Gleis, an dem mit uns noch hunderte andere Menschen stehen, und warten geduldig auf unseren Zug nach Agra.

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Warten auf den Zug nach Agra.

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