Wir jagen durch das Baltikum. Estland ist das letzte der drei baltischen Länder, die wir in viel zu kurzer Zeit besuchen. Es empfängt uns kühl, windig und saftig grün.

Abends um halb neun fährt unser Luxusbus in den Busbahnhof der estnischen Hauptstadt ein. Verfroren sitzen wir rum und warten: Unsere Couch Surfing Gastgeberin hat uns angeboten in ihrem Apartment zu wohnen, obwohl sie über das Wochenende in Białystok ist. Ein Freund von ihr soll uns abholen und uns die Schlüssel überreichen. Nach einiger hin und her Telefoniererei treffen wir endlich aufeinander.

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Warten am Busbahnhof von Tallinn

In solchen Momenten ereilen mich manchmal arrogante Gedanken wie: „Wo bleibt dieser komische Typ denn? Kann der sich nich mal ein bisschen beeilen? Jetzt stehen wir hier in der Kälte rum und warten auf ihn!“ Tatsächlich hat er eigentlich gar keinen Grund uns zu helfen: Er kennt uns nicht, hat uns noch nie gesehen und wird uns nachdem wir ihm am nächsten Abend den Schlüssel wieder zurück geben sehr wahrscheinlich auch nie wieder zu Gesicht bekommen. Ich reiße mich zusammen. Bin ich etwa schon ein bisschen verwöhnt?

Rait hat ein kleines Mädchen dabei, das uns neugierig beäugt. Wir fahren zu einem Haus, das ziemlich zentral etwa einen Kilometer von der Altstadt entfernt liegt. Im altersschwachen Aufzug fahren wir zu zweit mit unseren Taschen in den zweiten Stock, die anderen beiden laufen Treppe. Wir betreten eine futzikleine, etwas abgewrackte Zwei-Zimmer-Wohnung. Im Flur steht ein Kinderwagen, das Wohnzimmer ist auf der einen Seite voll mit Mädchenspielzeug: Ein Puppenhaus steht vor einem Frisierkopf, Hello Kitty Artikeln und Kuscheltieren. Daneben eine Box voll rosa Kram und einem Hüpfball. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich vor einem schweren goldglänzenden Vorhang ein schwarz-grau gemustertes Velourssofa, das mit einer plattgesessenen Tigerprintdecke überzogen ist. Vor der schmalen Küchenzeile ohne Ofen steht ein Bauchtrainer unter dem zwei Hanteln liegen. Auf dem Gerät thront ein riesiger Plüschtiger.

Wir überlegen ob der „Freund“, der uns die Schlüssel übergibt, in Wahrheit „der Freund“ unserer abstinenten Gastgeberin ist und das Mädchen allen beiden zuzuordnen ist. Unsere Vermutungen bleiben jedoch im Unklaren.

Nachdem wir unsere Klamotten abgeladen haben laufen wir in die Altstadt.

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Nachts können Tallinns Straßen richtig verlassen sein.

Nach herzhaften Pfannekuchen schlendern wir ein wenig durch die mittelalterlichen Gassen Alt-Tallinns. An manchen Stellen ist ruhig und friedlich, doch in den Kneipenstraßen, den rot erleuchteten Gentlemen’s Clubs und auf den Plätzen feiert die internationale Jugend. Wir sind zu müde, wandern lieber wieder nach Hause.

Den nächsten Tag beginnen wir mit einem Picknick am Meer. Obwohl Sonntag ist können wir im Supermarkt nebenan alle Zutaten für ein Frühstück einkaufen. Auch zahlen wir in Estland wieder mit Euro, das Land ist als einziges baltisches Land seit 2011 in der Eurozone. Bepackt mit Bananen, Joghurt und Rosinenbrötchen suchen wir den Strand Tallinns auf.

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Wieder kreischen Möwen. Wir beobachten die riesigen Kreuzfahrtschiffe, die zwischen Tallinn, Stockholm, Helsinki und St. Petersburg hin und her pendeln. Mit der Fähre nach St. Petersburg, das wär schon was!

Aber unsere Bustickets für diesen Abend sind bereits gekauft, und billig waren sie nicht! Also begnügen wir uns damit, den Hafen zu erkunden und durch das geschäftige Treiben zu schlendern.

Zurück in der Altstadt tauchen wir ein in den Touristenstrom, der sich durch die kopfsteingespflasterten Gassen schiebt. Wenn wir auf den kleinen Seitenzweigen für wenige Momente mal die einzigen Menschen sind, vermitteln uns die in Pastellfarben getünchten Häuschen das Gefühl, die Zeit würde zurückgedreht und wir befänden uns irgendwann im Mittelalter.

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So viel altes Gemäuer…

Doch die meiste Zeit sind wir nicht allein, sonder umgeben von anderen im Schneckentempo kriechenden, Fotos machenden und neugierig umherschauenden Menschen. Manchmal schnappen wir ein paar deutsche Wort aus einer Gruppe auf und haben unsere Freude daran Mäuschen zu spielen: Wir passen unser Tempo dem der Seniorengruppe  an und spitzen die Ohren…

„Also es wäre doch vielleicht ein guter Vorschlag hier im Innenhof einen Kaffee zu trinken. Da wäre es dann auch nicht so laut und die Annegret hat doch noch ein paar schöne Geschichten zu erzählen. Da könnten dann auch mal alle zuhören…“ – „Ja, das könnten wir ja mal vorschlagen…“ – „Haben Sie gehört? Das wäre doch ein guter Vorschlag!“ – „Aber Herr Schneider, dann würden wir doch nicht ganz so viel von der Stadt sehen, oder?“

Die Deutschen: immer schön höflich bleiben dabei aber nicht verpassen bissige Kommentare einzustreuen. Wir schämen uns ein wenig, dass wir das selbst so gut können…

Am Ende siegt – wie immer – die stärkere Partei und die Reisegruppe zieht sich in den erwähnten Hinterhof zurück.

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Altstadt Tallinns vom Domberg aus gesehen.

Wir lassen uns von den Massen treiben und versuchen die Aufschriften auf den Geschäften, Restaurants und Cafés zu lesen: Die estnische Sprache ist ganz anders als das Lettische, das Litauische oder das Polnische. Trotzdem können wir viele Worte intuitiv verstehen. Politsei ist klar, Kleit auch und Solaarium verstehen wir ebenfalls. Uns scheint, die Esten lieben es Buchstaben, seien es Konsonanten, Vokale oder Umlaute, doppelt einzusetzen. Außerdem sind viele Worte dem Deutschen entwandt, z.B. bürgermeister oder reisibüroo. Uns gefällt diese Sprache und wir bereuen es, dass wir kaum Gelegenheit haben, wenigstens ein paar Wörter zu lernen.

Wir gehen wieder an der großen Hauptstraße entlang zurück zu unserem Kurzzeitapartment. Außerhalb des Stadtkerns lassen die Gebäude wieder die sowjetische Vergangenheit der Stadt erkennen.

Am Abend müssen wir Tallinn und Estland schon wieder verlassen. Unser Bus fährt um 21.30 Uhr vom Busbahnhof ab. Wir resümieren das Baltikum. Welche Hauptstadt hat uns am besten gefallen? Alle drei Städte waren ähnlich und doch jede ein wenig anders. Vilnius überraschte uns (vielleicht nach Polen?) mit seiner Modernität und seiner Schönheit. In Riga haben wir vor allem das hanseatische Flair und das lebendige Nachtleben genossen. In Tallinn gefällt uns die wunderbar erhaltene Innenstadt mit ihren vielen Cafés, doch die Touristenströme schrecken uns eher ab. Die Länder und Mentalitäten, die hinter diesen Hauptstädten stehen, haben wir leider nicht kennengelernt. Uns scheint, alle drei Länder eint ein selbstbewusster Patriotismus, der auf die vor erst 20 Jahren errungene hoffentlich endgültige Unabhängigkeit zurück zu führen ist. Alle drei Länder verbindet eine lange Geschichte der Bevormundung und Besetzung durch die „großen Mächte“, in deren Kreuzfeuer sie selten die Chance auf Selbstbestimmung fanden. Seit dem Zerfall der UdSSR 1991 jedoch sind alle drei Länder endlich frei und wie uns scheint stolz darauf. Jeder, den wir nach der Geschichte seines Landes fragen, sei es in Litauen, Lettland oder Estland, kann uns von der Gründung vor vielen hundert Jahren bis zur letzten Revolution und Befeiung derailreich erzählen, wie sich sein Land bis heute entwickelt hat. Wir sind sehr interessiert an all den Geschichten und vor allem an denen der Menschen, die den Wandel der Zeit miterlebt haben. Doch leider haben wir kaum Zeit uns ein bisschen tiefer in all das zu vertiefen.

Wir lassen nicht nur Estland und das Baltikum hinter uns, sondern auch das politische Europa. Unser nächstes Ziel ist St. Petersburg. Über Nacht wollen wir unsere erste Station in Russland erreichen. Wir sind k.o. von nicht genügend Schlaf auf dem Tigerdeckensofa und einem langen Tag auf den Beinen und hoffen im Bus schlafen zu können…

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Hello again, ihr werdet es nicht erraten : wir sind z.Zt. In chriss‘ studienort, nämlich in Ingolstadt , um den neuen audi abzuholen ! Heute haben wir eine tolle Wanderung vOn guendolfing nach walting gemacht. Dort im moihof haben wir uns gestaerkt und sind dann in einem Kanadier auf der altmuehl zurueck gepaddelt,. Das war ein schöner Tag für uns! Morgen geht’s mit dem S5 wieder heim. Wir wünschen euch eine tolle Hochzeit und habt ihr eigentlich unsere Kommentare erhalten? Viele line Gruesse von s&r

13. August 2011 22:19

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