Russland ist vor allem eins: Groß! Die Großstädte sind ausladend, die Distanzen unvorstellbar… Aber fangen wir mal ganz vorne, ganz klein an:

Unser Bus in Tallinn kommt überpünktlich, so wie alle Überlandbusse. So bleibt Zeit zum Check-in, d.h. Tickets kontrollieren, diesmal auch Pass und Visum prüfen, Gepäck mit Nummern versehen und im Gepäckraum unterbringen, einsteigen, Plätze suchen, Losfahren. Punkt halb zehn fahren wir also los in Richtung russische Grenze. Der Bus ist ok, es gibt einen Stromanschluss, wunderbar, aber diesmal leider kein Internet. Also wollen wir einen Film gucken. Leider funktioniert der Ton nur bei „Scream 4“. Schon nach den ersten drei Minuten habe ich keine Lust mehr hinzugucken. Ich will einen Schluck Wasser trinken und greife zur Flasche, die wir eben von unseren letzten Cents noch im Supermarkt gekauft haben. Da ich die Aufschrift nicht lesen konnte habe ich einfach die Flasche mit dem hellblauen, statt dunkelblauen, Etikett gewählt, die dazu auch noch billiger war, in der Hoffnung ich hätte damit das stille Wasser getroffen. Tja, in dem Moment als ich die Flasche öffne zeigt sich jedoch das Gegenteil: Das Wasser spritzt mir um die Ohren, ich bin komplett nass, der Laptop auch und die Passagiere hinter, vor und neben uns sind alle wach. Bei dem Versuch den Laptop schnellstmöglich von den Spritzern die befreien, betätigt Christian irgendeine seltsame Tastenkombination, die plötzlich das Display umdreht. Alles seht auf dem Kopf! Selbst die Maus ist nur noch schwer zu bedienen, sie funktioniert nämlich spiegelverkehrt. Nach ca. 20 Minuten haben wir endlich herausgefunden wie sich der Bildschirm ohne den mysteriösen Shortcut wieder zurückdrehen lässt, haben aber keine Lust mehr auf Scream oder sonstige Aktivitäten am Computer.

Wir wollten ja sowieso schlafen im Bus. Also versuchen wir es uns auf unseren Sitzen bequem zu machen. Leider ist diesmal der Bus komplett voll und wir können nirgendwohin ausweichen. Nur die Lehnen können wir ein wenig zurückstellen. Schon nach zwei Stunden sitzen werden die Polster unglaublich dünn und die Sitze verdammt hart. Ich versuche es in allen möglichen Positionen doch auf Schlaf kann ich nur hoffen. Um 1 Uhr passiert dann endlich wieder was: Wir erreichen die Grenze! Ich bin schon ein bisschen neugierig wie der Übertritt nach Russland wohl ausfallen wird, stelle mir die russischen Grenzposten wie die Figuren in einem James Bond Film vor.

An einem tpyischen Grenzhäuschen halten wir an. Eine blonde Dame mit militärgründer Uniform steigt zu uns in den Bus und verlangt von allen Reisenden den Pass. Auch unseren sammelt sie ein und verschwindet dann wieder. Warten. Dann läuft unsere Reisebegleiterin durch den Bus und verteilt an alle Nicht-Russen das Einreiseformlar. Zum Glück hat es eine englische Übersetzung… Warten. Im Bus herrscht fahles Schweigen. Dann kommt die Dame mit unseren Pässen wieder und gibt sie uns zurück. Neugierig suchen wir nach dem russischen Stempel, doch der Pass ist unverändert. Das war dann also erst die estnische Grenze…

Der Bus springt wieder an und wir fahren etwa 100 Meter weiter und halten erneut. Es ist nun 2 Uhr nachts. Wir werden gebeten alle unsere Klamotten und unser Gepäck an uns zu nehmen uns auszusteigen. Müde gehorrchen alle. Vor einer Tür stehen wir blass und gähnend in einer Schlange an. Der Bus ist komplett leer und wir beobachten wir er oberflächlich von einem russischen Grenzbeamten in allen Winklen ausgeleuchtet wird. Die Schlange rückt vor und wir gelangen endlich hinter die Tür. Das ist also die russische Grenze: Zwei Schalter in denen jeweils ein Beamter sitzt, dahinter ein Durchgang, dann ist man in Russland. „Priviät“, sage ich zur Begrüßung zu der jungen Beamtin, die mich hinter einer Glasscheibe müde anlächelt. Sie nimmt meinen Pass und das ausgefüllte Einreisedokument entgegen und beginnt zu blättern. Sie schaut sich alle meine Visa an und prüft auch mein Passfoto, auf dem ich tatsächlich wie eine russische Spionin aussehe, mit meinem Gesicht ab. Dann bekomme ich endlich meine Stempel: einen in meinen Pass, einen auf das Einreisedokument. Ich bin durch!

Es ist mittlerweile 3 Uhr und wir schmeißen unser Gepäck wieder in den Bus, nehmen wieder unsere Plätze ein. Der Bus fährt weiter und endlich finde ich ein wenig Schlaf…

Ab 5 Uhr sind wir wieder wach. Draußen ist es schon taghell, eigentlich sollten wir gleich schon da sein, denn in Sankt Petersburg ist es bereits 6.00. Doch nach Stadt sieht das hier noch nicht aus. Der Himmer ist zwar grau aber sonst ist es ziemlich grün. Bewirtete Felder, Bäume, Wiesen. Dann kommen die ersten Häuser, die schnell von Industrie abgelöst werden. Riesige Schrottplätze, Garagensiedlungen, Blechhaufen, alles verkommen und verwahrlost. Hier wird wohl nichts mehr produziert. Hunde lungern am Straßenrand rum, ziemlich große sogar; denen will ich nicht zu Fuß begegnen! Der eine oder andere Penner schleppt sich über den Gehweg. Hoffentlich kommt er nicht den Hunden in die Quere…

Endlich erreichen wir ein Autobahnkreuz und wir fädeln uns auf die moderne Straße ein. Alle paar hundert Meter ragt eine bogenförmige Lampe über die Fahrbahn. Nach ein paar Kilometern verlassen wir die Autobahn. Wir sind in der Stadt: Überall riesige Gebäude, nicht besonders hoch aber massiv! Auch die Straßen sind mindestens zweispurig auf jeder Seite und in der Mitte ist noch Platz für die Straßenbahn.

Eine Stunde zu spät erreichen wir unsere Haltestelle in Sankt Petersburg. Für uns ist es trotzdem erst 6 Uhr mogens. Marina und ihr Verlobter, Zhenja, holen uns wie vereinbart ab. Am Auto treffen wir auf zwei weitere Hochzeitsgäste, Mateo, ein in Polen geborener und aufgewachsener US Amerikaner, und seine Frau Viviana, Columbianerin, die jetzt mit Mateo zusammen in Santa Barbara lebt. Sie sind diese Nacht mit dem Zug aus Moskau gekommen. Haben die Nacht gut geschlafen, sagen sie. Wir werden ins Auto eingeladen und fahren zu dem Appartment von Marinas Eltern, in dem sie jetzt mit Zhenja lebt. Wir dürfen auf der Schlafcouch im Arbeitszimmer schlafen, 15 Quadratmeter nur für uns! Wir schmeißen uns übermüde ins Bett und schlafen sofort…

Eigentlich hätten wir schon um 10 Uhr wieder los gesollt, Sightseeing. Alle sind wach und warten auf uns. Wir haben bis 11 Uhr geschlafen. Also frühstücken wir schnell und fahren gleich weiter. Wir spazieren durch einen Park, wie man ihn vor Schlössern oder Herrenhäusern kennt: Gepflegte Blumenbeete, Springbrunnen, geharkte Kieswege. Langsam wird der Himmel schwarz, es fängt an zu fieseln, wird windiger und regnet dann richtig. Neben dem Park sind Kassenhäuschen und Menschenschlangen, die alle Tickets für den wirklichen Garten, den Peterhof, kaufen wollen. Erst mache ich mich über die Leute lustig, die bei diesem Schietwetter Geld dafür bezahlen in einen Garten zu gehen, dann wird mir mitgeteilt, dass auch wir jetzt in die berühmte Grünanlage gehen wollen.

Die Karte kostet für Nicht-Russen 10 €, für Russen 2,50 €. Mir ist jetzt schon kalt, aber es wird noch ein bisschen schlimmer. Wir verbringen knappe drei Stunden in dem Urgarten Sankt Petersburgs. Peter der Große, der Gründer Sankt Petersburgs, hatte hier seine Sommerresidenz, dirket am Meer, voller Brunnen, Hecken und Bäumen. Unter einem Säulengang stellen wir uns zeitweise unter und hoffen darauf, dass der Platzregen nicht zum Dauerregen wird. Andere Touristen stellen sich in ihren bunten Regencapes und unter ihre Regenschirme gezwängt vor die imposante Brunnenkaskade und lassen sich von den im Halbtrockenen Stehenden ablichten. Die anderen runzeln die Augenbrauen, warum wir das nicht wollen. Ganz ehrlich? Nein!

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Kostspieliges Regenfoto

Wir „spazieren“ durch den Park. Wenn man das Pfützenspringen, Unterschlupfsuchen und mit zugekniffenen Augen durch den Regen Blinzeln so nennen darf. Zum Glück haben wir unsere Regenjacken an. Aber mit Sandalen und FlipFlops macht es bald wenig Unterschied ober wir um die Pfützen herum oder einfach mitten durch sie hindurch laufen.

Durchgefrohren und klamm steigen wir wieder ins Auto und fahren mit beschlagenen Fenstern in die Stadt. Wir müssen uns noch registrieren. Zum Glück haben wir Marina dabei, die alle Formulare in Russisch für uns ausfüllt. Es vergeht fast eine Stunde bis Marina uns unsere Registrierungsformulare aushändigt. Wir sind jetzt bis zum 18.08. registriert. In Irkutsk müssen wir uns nochmal registrieren.

Zurück im Appartment will ich mich am liebsten sofort wieder hinlegen. Doch erstmal wird gekocht. Es gibt Fleischsuppe. Eine klare Suppe bestehend aus Hühnerfleisch, Schinkenstückchen und Braten. Außerdem ein bisschen Gemüse. Die Suppe ist schön heiß und schmeckt gut. Danach falle ich ins Bett und schlafe nochmal ein paar Stunden bis um 23 Uhr. Ich setze mich in die Küche und beginne ein wenig zu schreiben. Doch kaum habe ich angefangen, da ziehen alle schon wieder ihre Jacken an: Sie wollen wieder in die Stadt, die Öffnung der Brücken um 1.30 Uhr beobachten. Eigentlich dachte ich dieser Vorschlag von Marina sei optional gewesen, jetzt merke ich, dass es ein fester Programmpunkt war. Also ziehe auch ich mich hektisch an. Weiter geht’s. Mit dem Auto in die Innenstadt. Alles ist riesig. Nicht hoch, aber massiv. Quadratisch. Praktisch. Gut? Ich bin mir nicht sicher. Irgendwie sieht alles gleich aus. Die Mischung aus klassischen und barocken Fassaden, die breiten Straßen, die goldenen Kuppeln überall. Ich verliere die Orientierung. Die Stadt ist gebaut um zu beeindrucken, doch mich schrecken die monotonen Prachtbauten eher ab. Die Gebäude schreien danach bestaunt zu werden. Doch ich will nicht staunen. Warum auch? Mir haben die Gässchen in den kleinen Hauptstädten des Baltikums viel besser gefallen. Die Menschen in den Straßen haben viel freundlicher geschaut. Hier werde ich von den abgemargerten russischen Frauen skeptisch gemustert. Mein Fehler: ich trage flache Schuhe! Alle, die meinen 10, 12 oder 14 cm Absätze seien nicht alltagstauglich, werden hier eines Besseren belehrt! Solche Schuhe, vor allem mit Plateau, eigenen sich besonders bei schlechtem Wetter, da der Schuh einen elegant über die tiefsten Pfützen trägt.

Wir finden endlich einen Parkplatz am Ufer der Neva und machen die gewohnten Pflichtfotos vom „Spektakel“ Brückenöffnung. Bei der Ausstattung von Mateo und Vivi erblassen wir beinah vor Neid: Jeder hat seine eigene Spiegelreflex und ein Stativ für Nachtaufnahmen haben sie auch noch. Respekt!

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Der Beweis: Wir waren dabei!

Ein bisschen staune ich dann doch noch: Wie schnell ich Kyrillisch lerne! Diese Schrift ist wie eine Geheimsprache für mich. Ich versuche alles um mich herum zu entziffern. Natürlich ist viel davon Russisch und ich verstehe nichts, aber einiges in der Stadt, die sich selbst „das Fenster zum Westen“ nennt, ist in englischer Sprache – oder wenigstens deren Klang nachempfunden – jedoch in kyrillischer Schrift. Und so lese ich БИCHECC CEHTEP und verstehe Business Center. Ich lese CAЛOH, verstehe Salon oder MЭKДOHAЛДC und erkenne es schon am großen gelben M. Eigentlich ist Kyrillisch ganz leicht, man muss sich nur ein paar Dinge merken:

1. Einige Buchstaben bleiben gleich:
A, E, K, M, T

2. Einig Buchstaben gibt es nicht (oder sie werden anders geschrieben):
D, F, G, I, J, L, N, Q, R, S, U, V, W, Z

3. Einige Buchstaben klingen anders:
B = W, C = scharfes S wie in Straße, H = N, O = irgendwas zwischen O und A, P = R, X = ch mal wie in ich mal wie in ach, Y = U

4. Einige Buchstaben sind neu:
Б = B, Г = G, Д = D, Ж = ge wie in Gerage, З = weiches S wie in Sense, И = I, Й = J, Л = L, П = P, Ф = F, Ц = Z, Ч = tsch wie in Deutsch, Ш =sch wie Schale , Щ =schch wie sch und ch gleichzeitig, Ы = wie U und I gleichzeitig, Э = Ä, Ю = ju, Я = ja

5. Außerdem gibt es:
Ъ = das „harte Zeichen“, hat keinen eigenen Laut. Es zeigt an, dass der zuvorstehende Konsonent hart ausgesprochen wird, kommt jedoch nicht häufig vor. Häufiger ist: Ь = das „weiche Zeichen“, hat ebenfalls keinen eigenen Laut, sondern zeigt an, dass der zuvorstehende Konsonant weich ausgespochen wird.

Anfangs lese ich natürlich noch seeehr seeehr langsam. Doch es ist jedes Mal ein Erfolgserlebnis, wenn ich ein Wort von Anfang bis Ende Buchstabe für Buchstabe entschlüsselt haben und dann feststelle: Ah! Da steht Maniküre – Pediküre (MAHИKYPE – ПEДИKYPE)!
Welcome to POCCИЯ!

Wir kommen wieder spät ins Bett und schlafen wie Steine.
Am nächsten Vormittag geht es gleich weiter. Marina nimmt uns mit der Metro in die Stadt. Natürlich regnet es aus Eimern und bis wir die Station erreicht haben sind alle klatschnass. Zum Glück weht in der Metro der gewohnte warme U-Bahn Wind, der uns wieder trocknen lässt.

Mit der Rolltreppe fahren wir immer tiefer in die Erde hinein, ich habe das Gefühl es geht unter Tage. Unten erwartet uns kein Gleis, sondern ein breiter Gang. Rechts und links sind Stahltüren. Sobald ein Zug einfährt öffnen sich die Türen auf der einen Seite. Wir betreten den Zug. Wackelnd und kreischend fliegen wir durch die dunkle Röhre bis wir unsere Station Newski Prospekt, die Flaniermeile Sankt Petersburgs, erreicht haben. Marina führt uns sofort in eine Souvenirpassage – Eine riesige Shoppingpassage nur mit Russland Souvenirs! Ich suche wie immer noch einer kleinen Flagge zum Anstecken. Marina meint, so ein Souvenir hätte sie hier noch nie gesehen… Nein, hier gibt es nur überteuerte Babuschkas, mal traditionell, mal im Winnie the Poo Design, MBA Spieler Design, Präsidenten Design… Außerdem Schmuck, Porzelan, Pelzmützen und Bernstein. Nach ein paar Minuten hat Marina genug und führt uns wieder raus. Wir müssen unsere Tickets ausdrucken. Marina hat uns netterweise unsere Tickets von Moskau nach Irkutsk und von dort nach Ulan-Bator gekauft. Im Internet wäre es für uns um einiges teurer geworden. Wie immer ist alles auf Russisch, für Touristen keine Chance selbstständig etwas zu organisieren!

Wir wandern weiter durch die Stadt zum Platz des Winters vor dem imposanten Barockbau in Grün – der Eremitage (Эрмитаж), die nach dem Louvre wertvollste Kunstsammlung der Welt. Der Plan war, heute in die Eremitage zu gehen. Der Eintritt, ähnlich dem Peterhof. Die Schlange ist zum Glück viel zu lang und Christian braucht „unbedingt“ noch eine Hemd für die Hochzeit am nächsten Tag. So habe wir genug Gründe uns vor dem überteuerten sich durch die Räume Schieben und alte Bilder betrachten zu drücken. Zu zweit ziehen wir weiter, auf der Suche nach einem Hemd.

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Auf dass die Hosen noch lange passen…

Zwischen und 18 und 19 Uhr sollten wir wieder da sein, da Marina und Zhenja danach noch ein paar Erledigungen für die Hochzeit machen wollen. Wir sind pünktlich da und mich zieht es gleich wieder ins Bett. Um 22 Uhr kommen auch die anderen beiden und erzählen was sie in der Stadt erlebt haben. Sie sind begeistert von der Architektur und beeindruckt, dass ihre Bootstour länger als eine Stunde war… zwar nur auf Russisch, aber länger als eine Stunde! Wir sitzen noch ein wenig zusammen und besprechen den nächsten Tag. Marina und Zhenja haben um 16 Uhr ihren Termin auf dem Standesamt. Diesen Gang wollen sie alleine machen. Um 18 Uhr erwarten sie uns zum Abendessen im Hotel. Eine Freundin soll uns abholen. Am nächsten Tag können wir endlich ausschlafen und so gönnen wir uns ein paar Stunden Schlaf mehr, immerhin wollen wir abends richtig feiern!

Um 14 Uhr kommt Marina vom Frisör und Make-up wieder. Als Erstes fragt sie uns warum wir nicht in der Stadt seien. Die Antwort gibt sie sich selbst: Wir schlafen wohl lieber als was von der Stadt zu sehen. Wir sind ein wenig gekränkt, können ihren bissigen Kommentar nicht ganz verstehen. Ist es nicht unsere Entscheidung was wir mit unserer Zeit in Sankt Petersburg machen?
Wir treffen die Entscheidung noch ein paar Tage in der Stadt zu bleiben statt wie unsprünglich geplant mit Marina und Zhenja in Zhenjas Heimat in der Nähe von Moskau zu fahren. Nun stellt sich jedoch heraus, dass wir die einzigen Hochzeitsgäste (und damit die einzigen nicht-russischsprachigen) sind, die mitkommen sollen und dass es sich bei der Reise um Marinas und Zhenjas Hochzeitsreise handelt. Wir halten die Reise für viel zu kurz: 2 Tage Autofahren (die Distanz beträgt ca. 800 km!) für 3 Tage Familienbesuch! und verkünden Marina, dass wir ihr Angebot gerne annehmen, bis Sonntag in ihrem Appartment zu bleiben und dann mit dem Zug nach Moskau zu fahren. Ein wenig gestresst bucht Marina noch schnell zwei Tickets für uns nach Moskau, wieder kämen wir mit Englisch nicht weiter…

Endlich ist es so weit! Wir machen uns fertig für die Hochzeit, der wir jetzt schon so lange entgegengefiebert haben. Wir haben so viele Kilometer zurückgelegt um dabei zu sein und kramen von ganz unten unser Hochzeitsgeschenk aus, das wir in Berlin gekauft haben. Marina leiht mir ein schönes feines dunkelblaues Kleid, doch leider sehen meine flachen Ledersandalen dazu absolut unpassend aus. Ich entscheide mich doch für mein Strandkleidchen mit Ledergürtel, ein bisschen underdressed aber wenigstens harmonisch. Als wir im Hotel erscheinen, scheint sie jedoch ein wenig enttäuscht, nicht ihr blaues Kleid an mir zu sehen.

Wir werden den Eltern und Freunden vorgestellt und ärgern uns, dass nicht wenigstens ein „Sehr erfreut“ oder „Mein Name ist…“ gelernt zu haben. Mit einem Prosecco in der Hand werden wir an einen der bereits reichlich gedeckten Tische gebeten. Es gibt Kartoffelecken in Rosmarin, angemachte Champingnons und Pfifferlinge, unterschiedliche Salate, eine Fischplatte, gekochte Eier mit rotem Kaviar, Brot mit Dip, dazu A- oder O-Saft, Wasser und natürlich alles Mögliche an Hochprozentigem. Unsere Tischnachbarn beginnen mit Wodka, für den sich in das Gläsersortiment an jedem Platz ein Pinnchen einreiht. Wir beginnen gemächlich, mit ziemlich süßem Weißwein.

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Mmm, womit fang ich an…?

Bald wird gegessen, der DJ spielt Musik aus den 90ern, das Brautpaar geht von Tisch zu Tisch, stößt mit allen an, vermeidet aber selbst zu trinken. Kaum sind die ersten satt füllt sich schon die Tanzfläche. Ein bisschen Platz schaffen oder den Wodka wieder los werden. Wir machen mal mit.

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Marina und Zhenja am Wodka-Tisch

Das warme Buffet bemerken wir ein bisschen später, doch wir bleiben lieber bei den kalten Speisen. Die Kumpels von Zhenja meinen es ernst mit dem Wodka. Einer von ihnen ganz besonders. Er wankt zum DJ und gibt ein Ständchen nach dem anderen.

Zum Rauchen muss er immre wieder an uns vorbei. Er begrüßt mich mit dem Hitlergruß und erzählt mir dann lallend von seiner Tochter, auf die er besonders stolz ist, da sie in Berlin zur Schule geht. Er sagt über sich selbst, dass er Deutschland liebt und ihm ein Lied ganz besonders am Herzen liegt. Inbrünstig, halbwegs textsicher, aber dennoch nicht zu verkennen, singt er mir die erste Strophe der deutschen Nationalhymne (über die erste Zeiel kommt er jedoch nicht hinaus…). Ich versuche ihm zu erklären, dass wir diese Strophe nicht mehr singen, doch er versteht mich nicht. Grüßt erneut und lässt mich sitzen.

Diese Szene wiederholt sich mehrmals an diesem Abend. Unsere Versuche, ihn aufzuklären, treffen auf betrunkene Ohren. Nur seine Kumpels werden aufmerksam und fragen interessiert nach. Mir scheint, sie wollen mehr mit Christian als mit mir zu tun haben und so ziehe ich mich, wie es sich scheinbar für eine Frau gehört, zurück und lasse die Jungs fachsimpeln und Wodka trinken.

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Die Jungs. Von rechts nach links sinkt der Wodkapegel.

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Und er ist an allem Schuld. Der Vodka natürlich: PYCCKИЙ CTAHДAPT!

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Von dem lässt sich die Braut gern stehlen!

Die Party klingt langsam aus. Einge Gäste sind bereits gegangen. Nur der Versuch die Braut zu klauen kann die Stimmung wieder etwas anheizen: Zhenja muss zur Freude aller ein Liedchen singen und tanzen, erst dann darf er Marina wiederhaben. Um Mitternacht teilt uns Marina dann überraschend mit, dass wir jetzt von ihrem Bruder nach Hause gefahren würden. Schon?? Marina und Zhenja selbst bleiben die Nacht im Hotel. Am nächsten Morgen wollen sie jedoch bereits um 8.30 Uhr Sankt Petersburg verlassen und auf den erwähnten Familienurlaub gehen.

Ich bin ein paar Minuten zu spät, kann mich nicht mal verabschieden. Mateo und Vivi fahren auch heute, um halb vier Uhr nachmittags geht ihr Flieger, um 14 Uhr kommt der Bruder von Marina um sie zum Flughafen zu bringen. Er fragt uns warum wir nicht in der Stadt seien? Ihr schlaft wohl lieber. Geknickt bleiben wir zurück. Wir fühlen uns fälschlicherweise verurteilt.
Natürlich können wir verstehen wenn die Leute stolz sind auf ihre Stadt und wollen, dass wir möglichst viel von ihr sehen. Dennoch bleibt die Entscheidung immer noch unsere was wir tatsächlich machen. Wir sind nicht nach Sankt Petersburg gekommen, um die Stadt zu studieren, wir sind hauptsächlich für die Hochzeit gekommen und um Marina und Zhenja zu sehen. Wir sind so sehr durch das Baltikum gerast, dass wir mal ein bisschen Ruhe gebrauchen konnten und wir sehen es nicht ein, uns zu quälen, um den Ansprüchen anderer gerecht zu werden!

Wie auch immer, wir sind jetzt allein und haben das Appartment für uns. Die nächsten Tage schlafen wir aus, fahren mittags mit der Metro in die Stadt und denken uns selbst ein paar schöne Routen aus.

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Von nun an sehen wir eigentlich nur noch orthodoxe Kirchen.

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Das Wetter ist leider unberechenbar: Es schauert immer wieder zwischendurch.

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Zum Glück gibt es auch eine grüne Insel, auf die wir uns einen Tag flüchten…

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…und den zutraulichen Eichhörnchen ganz nah kommen!

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An unserem letzten Tag ist das Wetter leider wieder seeehr mies…

Immer wieder bestaunen wir die Art und Weise wie andere Touristen (hauptsächlich Russen) Sehenswürdigkeiten fotografieren indem sie vor ihnen posieren:

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Russische Männer zeigen dabei keinerlei Emotionen.

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Russische Frauen hingegen zeigen was sie haben!

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Und: Überall wird geheiratet. Egal bei welchem Wetter!

Am Sonntag müssen wir früh aufstehen, da um 9.00 Uhr Marinas Eltern kommen, um von uns den Schlüssel wieder zu bekommen. Mit Sack und Pack ziehen wir wieder auf die Straße, vorerst in die Metro, dann in den Bahnhof und warten auf unseren Zug nach Moskau. Neun einhalb Stunden soll die Fahrt dauern. Der Zug gleitet entspannt durch grüne Landschaften. Weite Sumpfwiesen, von kleinen Seen zerteilt, mit Büschen gesprengkelt. Überall Laubbäume. Ab und zu eine Stein- oder Holzhütte, eine kleine Siedlung, mehr nicht. Und entlang der kompletten Strecke ein grüngestrichener Metallzaun.

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Mach’s gut СANKT-ПETEPБYPГ, vielleicht sehn wir uns ja mal wieder…!

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