21:35 Uhr, Moskau.

Pünktlich wie immer setzt sich der lange Zug in Bewegung. Wir sind unterwegs! Mit der Transsibirischen Eisenbahn Richtung Baikal See. In Irkutsk, ca. 5000 km weiter östlich und gute drei Tage später, werden wir ihn erst wieder verlassen. Langsam nimmt der Zug an Fahrt auf und wir machen es uns in unserer Kajüte gemütlich.

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Gemütlichkeit auf vier Quadratmetern.

00:29 Uhr, Vladimir. 23 Minuten Aufenthalt.

Das Schlafen fällt weniger leicht. Der Zug ruckelt und ist laut. Die Betten sind mit 60 cm Breite und 180 cm Länge ziemlich schmal und kurz und dazu noch recht hart. Trotzdem schlafe ich irgendwann erschöpft von den letzten Tagen ein.

03:45 Uhr, Niznij Novgorod. 10 Minuten Aufenthalt.

Um viertel vor vier halten wir erneut. Jetzt bekommen wir Besuch, denke ich verschlafen. Tatsächlich ruckelt es plötzlich an unserer Tür. Irgendwer versucht gewaltsam reinzukommen. Dann klopft es, aber vorsichtiger. Christian, der unten liegt, macht die Tür auf und herein kommen zwei Russen. Ich hoffe inständig, dass sie keine Wodkafahne mitbringen und nicht gleich das große Licht anmachen um mit uns anzustoßen. Doch zum Glück scheinen die Beiden rücksichtsvoll zu sein, sie flüstern und versuchen uns nicht zu wecken.

Nach bruchstückhaftem Schlaf erwache ich um halb 10. Ich stelle mich verschlafen den zwei Russen in unserem Abteil vor.

09:55 Uhr, Kirov. 15 Minuten Aufenthalt.

Wir sitzen lange mit den beiden zusammen und unterhalten uns mit Händen und Füßen. Obwohl der eine von ihnen kaum, der andere halbwegs Englisch spricht, verstehen wir uns doch immer gut und lernen uns so ein bisschen kennen. Sie kommen von einer Konferenz in Niznij Novgorod und sind auf der Rückreise in die Heimat, eine kleine Stadt in der Nähe von Ekaterinburg, d.h. sie werden uns in der kommenden Nacht schon wieder verlassen. Zuerst bin ich glücklich – dann haben wir das Abteil endlich wieder für uns – doch schon wenige Momente später weiß ich nicht so recht. Wer weiß wer als nächstes zu uns stößt? Diese zwei jungen Männer jedenfalls sind wirklich liebe Kerle mit denen wir uns auf Anhieb gut verstehen!

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Kennenlernen auf engstem Raum.

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Anton und Sergej

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13:33 Uhr, Balesino. 23 Minuten Aufenthalt.

Endlich wieder ein Stopp. Ich springe aus dem Zug und schledere über den Bahnsteig. Nirgendwo kann ich einen Geldautomaten erblicken. Wäre auch zu schön. Um mich herum wuseln die Menschen. Einige steigen zu, manche verlassen den Zug. Dazwischen schlängeln sich alte Frauen mit Körben voll unterschiedlicher Essenssachen, die sie an die Reisenden verkaufen wollen. Alle 50 Meter stehen ein paar Stände an denen man Wasser, Eis oder Souvenirs kaufen kann. Es ist kalt und ich gehe lieber wieder ins Warme.

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17:36 Uhr, Perm‘. 20 Minuten Aufenthalt.

Wir unterhalten uns den ganzen Tag. Anton ist 31, hat drei Töchter, die eine 10 Jahre, die ander 9 Jahre und die jüngste 3 Monate alt. Die beiden älteren Töchter lernen schon Englisch in der Schule, erzählt er stolz. Er selbst hat zwar nur rudimentäre Kenntnisse, lässt sich davon jedoch nicht abhalten immer wieder die Unterhaltung mit uns fortzuführen. Seine Sätze beginnen mit „You know… I have… I lived… No… My family…“ um dann in Russisch fortzuführen und mit einem auffordernd fragenden Blick an Sergej zu enden. Der prustet jedes Mal die Backen, schüttelt ergeben den Kopft und erwidert: „You make such long sentence! I cannot translate!“, übersetzt dann aber doch Stückchen für Stückchen Antons Erzählung oder Frage. Wir versuchen zu erraten was er sagen will und legen ihm Alternativen in den Mund, die er gerne annimmt. Sergej selbst ist 29 Jahre alt und hat einen Sohn. Er lernt zwei Mal die Woche Englisch auf seiner Arbeit. Er ist passonierter Bier Trinker und Fußball Gucker. Anton hingegen präferiert trockenen Rotwein und geräuchterten Käsen, von dem er uns großzügig abgibt. Sowieso teilen wir unsere Vorräte miteinader, genauso wie unsere Reiseerfahrungen. Während sie gespannt unseren Erzählungen über europäische Länder folgen, lauschen wir interessiert ihren Tipps zu Reisen in die Tschechische Republik oder die Altaj Region an der Grenze zu Kasachstan und der Mongolei. Wir berichten über die Alpen und Wintersportmöglichkeiten, sie informieren uns über die Jahreszeiten im Ural: Winter beginnt im Oktober und endet im März. Schnee kann es aber auch schon mal im Juli geben. Temperaturen um -20°C sind normal. Die anderen drei Jahreszeiten verteilen sich auf die restlichen sechs Monate.

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Brotzeit!

Draußen beginnt es schon zu Dämmern da fahren wir durch das Ural. Erst wird es hügeliger, dann tauchen ein paar Felsen auf, die uns an die aus dem Elb-Sandstein-Gebirge erinnern. Dann sind wir durch. Mmm, das ging schnell.

Um 23 Uhr Moskauer Zeit erreichen wir Ekaterinburg. Hier ist es bereits zwei Stunden später. Wir verabschieden uns von unseren liebgewonnen Reisebegleitern und tauschen noch ein paar Souvenirs aus. Schade, dass sie uns verlassen.

23:18 Uhr, Ekaterinburg. 23 Minuten Aufenthalt.

Kaum sind die zwei weg, knipsen wir die Lichter aus und versuchen zu schlafen. Hoffentlich kommen beim nächsten Stopp nicht schon die Nächsten…

03:58 Uhr, Tjumen‘. 20 Minuten Aufenthalt.

Am nächsten Morgen erwache ich früh. Meine Armbanduhr zeigt zwanzig vor 1 Uhr nachts. Doch draußen ist schon ein Schimmer Licht zu sehen, das kann nicht sein. Ich schaue auf den Zugplan: um 4 Uhr sollten wir Tjumen‘ erreichen. Habe ich erst eine Stunden geschlafen? Dabei fühle ich mich so wach. Ich kann nicht mehr einschlafen und stehe auf. Der Zug wird langsamer und fährt in einen Bahnhof ein. Ist es doch schon später? Oder zeigt der Plan doch lokale Uhrzeit, statt Moskauer Zeit? Am Bahnhof schaue ich verfrohren in den frischen Morgen. 4:12 Uhr zeigt eine riesige Digitalanzeige an, dann: 9 °C. Ich ziehe mich wieder zurück. Jetzt ist die morgendliche Verwirrung komplett. Handelt es sich bei der angezeigten Uhr um Moskauer Zeit oder um die lokale Uhrzeit? Und warum stimmt meine Armbanduhr mit keiner von beiden überein??? Zerstreut torkele ich wieder zurück in unser Abteil, das zum Glück bisher keine neuen Mitreisenden aufgenommen hat. Durch das ständige Schaukeln während der Fahrten, fühle ich mich bei Stillstand als führe ich innerlich weiter. Wie wenn man nach einer langen Bootsfahrt bei starkem Seegang wieder Festland unter den Füßen hat. Mir wird ein wenig übel. Als ich die Schiebetür öffne wird Christian geweckt. Ein Uhrenvergleich kann meine Fragen endlich klären: Christians Uhr zeigt 4:18 Uhr an, die Digitaluhr am Bahnhof war also Moskauer Zeit ebenso wie die Zeitangabe im Fahrplan. Allein meine Armbanduhr scheint nicht mehr richtig Schritt halten zu können. Ich brauche wohl eine neue Batterie…

Wir sind in Tjumen‘, 7:18 Uhr Ortszeit. Draußen geht zwischen vielen blauen Wolken die Sonne auf. Durch ein kleines Loch in den Wolken, das sie gelblich ausleuchtet, zwinkert sie mir für ein paar Momente zu. Ein schöner Tag. Mein erster in  Sibirien!

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Wir fliegen durch die unfassbaren Weiten Sibiriens. Es scheint als seien wir umgeben von nichts als gelb getrockneten Wiesen, auf denen sich immer wieder ein paar Birken zusammengefunden haben. Strommasten auf Holzpfählern fügen sich in das Bild, alle paar Kilometer zieht sich ein Feldweg schnurgerade durch die sonst unberührte Wildnis. Auf einer Wiese wurde das getrocknete Gras zu typischen Haufen aufgeschichtet.

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08:01 Uhr, Ishim. 12 Minuten Aufenthalt.

Die dominierende Baumarten sind Birken und Kiefern, die gleichermaßen um die Vorherrschaft kämpfen. Wenn die Birken nicht in Grüppchen und Streifen saftig grün behangen zusammenstehen, so ragen sie als schlohweiße Spieße kahl und tot aus dem sumpfigen Untergrund. In dieser Erscheinung schaffen sie Geisterstädt, die bis zum Horizont reichen und verbreiten eine schaurige Atmosphäre. Die Kiefern hingegen suchen sich den festen Grund zum Wurzeln und stehen wie gewohnt hoch und schlank auf ihren kaminroten blättrigen Stämmen.

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11:32 Uhr, Omsk. 15 Minuten Aufenthalt.

In Omsk wird unsere Zweisamkeit wieder gestört. Vorsichtshalben räumen wir beim Einfahren des Zugs die nichtbesetzte Sitzbank frei. Wir hören schlurfende Schritte auf dem Gang, die uns immer näher kommen. Dann steckt ein kräftiger Russe mit kurz geschorenen Haaren seinen Kopf in unser Abteil und sieht sich etwas dümmlich dreinschauend um. „Priviät“, begrüßen wir ihn, doch er antwortet nicht, wirft ein zugeschnürrtes Packet und eine schwere Reisetasche auf die untere Sitzbank und verschwindet wieder. Kurz darauf kommt er wieder mit weiteren Packeten und einem anderen, dunkelhaarigen Mann mit gedrungenem Körper und dicken Lippen. Außerdem ein kleiner blonder Junge, vielleicht 9 Jahre alt. Der Junge beäugt uns schüchtern, der dunkle Mann begrüßt uns flüchtig und beginnt weitere Packete und Reisetaschen zu verstauen. Ich gehe auf den Bahnsteig, im Abteil wird es eng.

Der dicke Russe verabschiedet mit der ganzen restlichen Familie die zwei Reisenden. Wir haben wieder zwei Mitreisende. Doch die einzige Kontaktaufnahme des Mannes besteht darin, mich in Russisch aufzufordern das Abteil zu verlassen, damit er seinen durchtrainierten Body (hat Christian mir nachher erzählt) erst auspacken und dann in bequeme Jogginghose und T-Shirt wieder einpacken kann. Auch der Junge bekommt bei der Gelgenheit einen neuen Look: knielange Jeanshose und nackten Oberkörper. So turnt er diesen und den nächsten Tag durch unser Abteil ohne uns dabei aus den Augen zu lassen.

15:23 Uhr, Barabinsk. 23 Minuten Aufenthalt.

Der Junge hört und hört nicht auf zu Essen. Erst mamft er schmatzend eine komplett Portion Instantnudelsuppe. Dann packt er eine in Alufolie gewickelte gekochte Rinderzunge aus. Bei dem Anblick wird mir schlecht. Mann kann die Zunge noch sehr gut als solche erkennen, mit der pelzigen Oberfläche und den Knospen hinten. Mit seinem Messer schneidet er sie seelenruhig in kleine Scheibchen, die er genüsslich verspeist bevor er den Rest der Zunge wieder in das Silberpapier einwickelt. Danach ist eine Tomate dran und zum Nachtisch isst er eine Packung Gummizeugs. Sein Vater – wir gehen mal davon aus, dass es sich bei dem dunklen Mann mit dem vielen Goldschmuck um Finger, Handgelenke und Hals um den Vater des blonden Knirps handelt – scheint dagegen keinen Hunger zu haben. Auch das Interesse an seinem Sohn schein ihm zu fehlen: Er zieht sich auf sein Hochbett zurück und ließt entweder Zeitung oder spielt mit seinem Handy rum. Der Kleine versucht in den Essenspausen immer wieder Kontakt zu ihm aufzunehmen, wird aber jedes Mal wortkart zurückgewiesen, vielleicht zum Essen aufgefordert. Denn seine Reaktion fällt eigentlich immer so aus, dass er die Rinderzunge wieder auspackt und sich wieder ein Scheibchen abschneidet.

Immer wieder beäugt er uns und beobachtet was wir treiben. Schaue ich interessiert aus dem Fenster, guckt er sofort nach, was ich da Interessantes sehe. Holt Christian sein Snickers raus, holt er aus einer der vielen Plastiktüten ebenfalls eins hervor und futtert es weg. Manchmal wissen wir nicht so ganz oder er mit sich oder mit uns redet. Wir antworten einfach „mhm“ und schenken ihm ein wenig Aufmerksamkeit.

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Draußen scheint mittlerweile die Sonne über geschwungenen Grashügeln. Der Himmel ist übersäht mit blauen und weißen Wolken. Das Licht ist wunderbar.

19:04 Uhr, Novosibirsk. 19 Minuten Aufenthalt

Mittlerweile ist es dunkel. Immerhin haben wir in Novosibirsk schon zehn Uhr abends. Mein Halsschmerzen sind immer doller geworden und ich habe mir mit einer heißen Zitrone ins Bett zurückgezogen. Christian ist draußen und fotografiert den Bahnhof, dessen Name mindestens einmal besungen wurde.

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Ich habe Schwierigkeiten einzuschlafen. Mein Hals brennt wie Feuer und wenn ich schlucke wird es noch schlimmer. Mir ist heiß und kalt zugleich – Ich will, DARF nicht krank werden! Endlich schlafe ich ein…

00:44 Uhr, Mariinsk. 25 Minuten Aufenthalt.

Den Stopp überschlafe ich. Um sechs Uhr morgens (Lokalzeit) erwache ich mit brummendem Schädel und einem flauen Gefühl im Magen. Ich schwinge mich vom Hochbett herunter und mir ist speiübel. Im Abteil schlafen alle. Nur Christian wird wach und umsorgt mich. Mit trockenem Mund sitze ich auf dem Fußboden im Gang und versuche vergeblich einen entfernten Punkt zu fixieren. Doch meine Augen driften immer wieder ab. Trinken hilft nix, mir wird nur noch schlechter. Warum haben wir keine Medikamente gegen Reiseübelkeit dabei?, frage ich mich und kaue eine Rennie. Ich versuche es mit Rescue Tropfen, doch ich bekomme nichts herunter. Zähneputzen hilft zeitweise. Dann lege ich mich wieder hin und schlafe sofort wieder ein.

06:33 Uhr, Krasnojarsk. 20 Minuten Aufenthalt.

Sobald das monotone Rütteln aufhört wache ich auf. Wir stehen in Krasnojarsk und die Sonne scheint. Ich steige wankend mit meiner Tasse Wasser aus und stelle mich in die wärmende Vormittagssonne. Haben wir halb zehn oder halb elf? Obwohl ich festen Boden unter den Füßen habe schaukele ich hin und her. Zum Glück ist meine Übelkeit vergangen und als der Zug weiterfährt lege ich mich erneut schlafen.

Eine Stunde später wache mit Kopfschmerzen aber ohne Übelkeit wieder auf. Wir frühstücken unseren gewohnten Haferbrei mit heißem Wasser angedickt, kleingeschnittenen Apfel- und Bananenstückchen und mit Milch aufgefüllt. Unser Zug schlängelt sich duch saftig grüne Wiesen und um geschwungene Hügel herum. Viele der Bäume haben angeschwärzte Stämme. Die Feuer vom letzten Sommer haben sie aber überlebt, denn sie sind wieder grün und gesund.

Die Tage auf der Fahrt Richtung Osten sind kurz und werden immer kürzer. Jeden Tagen durchqueren wir eine Zeitzone. In Irkutsk werden es fünf Stunden später sein als die überall angegebene Moskauer Zeit. Kaum haben wir gefrühstückt, können wir auch schon Mittag essen.

11:10 Uhr, Ilanskaja. 20 Minuten Aufenthalt.

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Beim Spinksen eingeschlafen…

16:06 Uhr, Nischneudinsk. 12 Minuten Aufenthalt

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Unsere Lok!

Wir machen uns bereit für unsere letzte Nacht im Zug. Zwar ist es nach Moskauer Zeit noch viel zu früh zum Schlafen, doch uns bleibt wohl keine andere Wahl als uns so schnell wie möglich auf die neue Zeit umzustellen. Leider sieht unser Körper das etwas anders und weigert sich einzuschlafen.

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Vielleicht hilft ja noch ein Tee zur erwünschten Müdigkeit.

19:41 Uhr, Sima. 30 Minuten Aufenthalt.

Ich nehme mein Schicksal hin und versuche die Nacht zu genießen. Irgendwann falle ich doch in einen komatösen Schlaf aus dem Christian mich herausschütteln muss. Dass der Schaffner gerade in unserem Abteil war und das Licht an und aus gemacht hat, habe ich nicht mitbekommen. So fest habe ich geschlafen.

Es ist mitten in der Nacht und wir packen unsere Sachen. Wir verlassen unseren Zug nach über fünftausend Kilometern in den frühmorgendlichen Regen Irkutsks.

23:43 Uhr, Irkutsk.

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oh Mann!!! Einfach toll, was ihr so erlebt…wenn man hier mitliest hat man fast das Gefühl, man sei dabei!!! eine Umarmung aus Bremen von Annuschka*

27. August 2011 12:51

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