Wir fahren nach Tibet. Wir können es alle noch gar nicht richtig fassen. Aber doch, wir sitzen im Zug – total verschwitzt und heilfroh – über uns noch zwei Betten frei, um uns herum neugierige Chinesen. “Hello!”, wir grüßen zurück und winken. Die Männer verstecken sich kichernd “I love you”, witzig, um dann gleich wieder zu gucken, uns anzustarren, sich um unser Abteil zu versammeln. Wir versuchen es mit Ignorieren und sind vorerst erfolgreich. Ja, wir fahren wirklich nach Tibet, nächster Halt: Lhasa, die Hauptstadt der Autonomieregion Tibet in China. Was haben wir alles in letzter Zeit über Tibet gelesen? Früher ein einflussreiches Königreich, in dem sich Buddhismus aus Indien, Nepal und China kommend mit den lokalen Naturreligionen vermischte, woraus sich die Tradition des Dalai Lama entwickelte – geistige und politische Führung vereint in nur einem Mann. Was uns bekannt vorkommt ist die Invasion durch China in den 1950er Jahren, unter dem Vorwand Tibet von der Feudalherrschaft – der Unterdrückung durch die Monarchie –  zu befreien. Wie wir in verschiedenen Büchern lesen konnten (z.B. “Sieben Jahre in Tibet” von Heinrich Harrer oder auch Lobsang Rampas “Das dritte Auge”), ähnelte diese “Befreiung” eher eine kriegerischen Übernahme, die wohl dazu dienen sollte das junge kommunistische China zu vergrößern und die Menschen Tibets den Chinesen unterzuordnen. Diese gewaltsame Vereinigung resultierte dann 1959 in riesigen Widerständen, welche von der chinesischen Armee gewaltvoll niedergeschlagen wurden und die Flucht des 14., aktuellen, Dalai Lamas – um der Gefangenschaft zu entkommen – zur Folge hatten. Viele Zehntausend Tibeter folgten ihm damals ins Exil nach Indien und viele von ihnen leben dort noch immer.

Viele werden sich wahrscheinlich noch an die gewaltsam niedergeschlagenen Demonstrationen von 2008 in Lhasa erinnern. Damals gedachten die Mönche der Widerstände 1959, gaben sich schließlich ihrer Wut hin und protestierten dann nachdrücklich gegen die Besetzung durch China. Die Berichte gingen durch alle Medien, doch schnell sorgte die chinesische Regierung dafür, dass Reporter, Fernsehteams und alle anderen “Westlichen” die Provinz verließen. Die Proteste weiteten sich noch auf umliegende Provinzen aus, was teilweise zum Ausschalten des Internets durch die chinesische Regierung und zu verstärkter Militärpräsenz in den besetzten Gebieten führte.

Für China sind die Themen Tibet und Dalai Lama gerade heute sehr heikel, weswegen wir bereits in unserem Hostel in Chengdu ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass wir uns auf jeden Fall “den Regeln konform” verhalten sollten. Das heißt, in den Hostels übernachten, die uns empfohlen werden, niemals selbstständig die Gruppe verlassen (außer in Lhasa) und natürlich uns auf keinen Fall dabei erwischen lassen, wie wir über Recht und Unrecht des chinesischen Handelns in Tibet diskutieren. Wir lesen, dass China die Integration Tibets so versteht, dass sie durch den Bau von Straßen, Bahnstrecken, Schulen, Krankenhäusern usw. am besten funktioniert. Wir sind mal gespannt, wie viel wir davon mitbekommen und wie nah wir den Tibetern tatsächlich kommen können.

Unser Zug, in dem wir sitzen, ist jedenfalls noch nicht so alt: Die Bahnstrecke wurde erst 2006 fertiggestellt und ist seit dem die höchst gelegene der Welt. Ein Pass liegt ganze 5.072 Meter hoch und ein Großteil der Strecke in Tibet verläuft oberhalb 4.000 Meter! Auch die Kosten von über vier Milliarden US$ sollen beeindrucken. Wir sind froh über den komfortablen Zug, fühlen uns aber auch ein bisschen komisch dabei, mit unserer Fahrt dem chinesischen Plan zu folgen.

Erst mal sind wir jedoch froh überhaupt im Zug zu sitzen und beruhigen uns langsam vom Stress des Abends. Um 23 Uhr geht dann das Licht aus und wir sitzen noch ein bisschen mit unseren Taschen- und Stirnlampen zusammen. Dann machen wir es uns in unseren viel zu engen Betten bequem. Am nächsten Morgen geht um Punkt 7 Uhr das Licht wieder an – viel zu früh! Aber in der dritten Klasse kann man sich nicht aussuchen wann man aufwachen soll, einen Lichtschalten gibt es nicht und eine Abteiltür natürlich auch nicht, und so bekommen wir schon bald Besuch von den neugierigen Männern von nebenan. Sie machen es sich malwieder vor unserem Abteil gemütlich und werfen gierige Blicke in unsere Schlafkammer. Wir können ihre Dreistigkeit kaum fassen – obwohl wir es doch mittlerweile gewohnt sein müssten…

Statt uns allzu sehr zu ärgern schauen wir lieber aus unserem Fenster und genießen den Sonnenaufgang über saftig grünen Hügeln.

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Dann gehen wir zum Gegenangriff über und holen unseren Fotoapparat raus. (Wie er sich freut!)

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Draußen ändert sich langsam die Landschaft und es wird deutlich trockener.

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Der Tag vergeht wie jeder andere im Zug: Essen, Schlafen, Essen, Lesen, Essen, Quatschen, Essen…

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Um uns herum wird es immer einsamer und hügeliger.

Als der Abend kommt, kommen wir den Bergen immer näher. Ich bin ganz aufgeregt und ein bisschen enttäuscht, dass das Tageslicht uns schon verlässt.

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In unserem Abteil ist es Zeit fürs Abendessen…

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Die Chinesen holen noch mal alles aus einem Zigarettenstummel raus was geht.

Heute geht schon um 22 Uhr das Licht aus doch ich bin viel zu gespannt um einschlafen zu können. Noch lange liege ich mit Musik in den Ohren auf meiner Pritsche und schaue in die mondhelle Nacht. Die kahlen Berge leuchten im fahlen Licht des Vollmondes. Ich kann es kaum erwarten ganz nach oben zu fahren und die riesigen Berge des Himalaya zu sehen…

Nachts werde ich immer wieder wach. Vielleicht ist es die Höhe, in die wir uns jetzt immer weiter hochschrauben, die meinen Körper unruhig werden lässt, ich hänge jedenfalls immer wieder mit der Nase an der Fensterscheibe und staune über die gigantischen Berge, die ich schneebedeckt am Horizont aufragen sehe. Die Scheibe beschlägt von meinem Atem und ich ziehe mich wieder in mein Bett zurück. Noch ein paar Stunden schlafen, dann geht das Licht auch schon wieder an und die Jungs nebenan machen Radau. Jede andere Nation, so wundern wir uns, würde um diese Tageszeit flüsternd miteinander reden. Die Jungs hier kennen diese Arte der Kommunikation anscheinend nicht, sie kennen nur laut reden, lachen, husten, rotzen und schreien. Mal wieder versammeln sie sich direkt vor unserer Abteiltür – dabei ist das Fenster vor ihrem eigenen Abteil genauso gut zum rausgucken und Fotos machen. Aber anscheinend ist bei uns die Sicht am besten und so stehen sie staunend, knipsend und immer wieder zu uns rüber gaffend direkt am Fußende unserer Betten. Als sie anfangen unsere Füße anzufassen um uns zu wecken, weil draußen ein Schneesturm herrscht, den wir jedoch schon lange bemerkt haben und ok, wir haben alle schon mal Schnee gesehen, wird es uns zu bunt. Ich versuche so böse zu gucken wie ich kann und scheuche sie mit einer eindeutigen Armbewegung und “Schhhh!”- und “Psssst!”-Lauten davon. Mein Vorhaben gelingt mir jedoch nur teilweise. Einige der Männer verschwinden, andere lachen mich mit einem Mund voller schwarzer und schiefer Zähne an. Ich finde das gar nicht lustig! Ich werde so sauer, dass ich anfange, die Typen anzumaulen. Auf Deutsch, auf Englisch, ganz egal, ich muss ihnen einfach die Meinung sagen. Irgendwann haben sie’s dann auch geschnallt und unser Abteil gehört kurzzeitig uns.

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Der Morgen draußen ist jedenfalls so schön, dass wir wieder ein bisschen abkühlen können.

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Wir gewinnen kontinuierlich an Höhe…

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…und erreichen bei über 5.000 Metern unseren vorläufigen Hochpunkt!

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Die Aussicht bleibt beeindruckend.

Damit wir nicht aus den Latschen kippen, wird Sauerstoff in unser Abteil gepumpt. Als wir jedoch Sjoukje und Quint in der “Soft Sleeper”- Klasse (der 2. Klasse) besuchen wollen, müssen wir erst die “Seater”- Klasse (die 4. Klasse) durchqueren. Die Leute dort sind ausschließlich arme Chinesen oder Tibeter, die in Sitzreihen zusammen gepfercht sind. Hier gibt es keinen extra Sauerstoff, es ist unerträglich heiß, stinkt, die Menschen schlafen auf Zeitungspapier auf dem Boden und unter den Sitzen oder im Gang, neben dem Klo. Sie breiten sich übereinander aus und leiden. Als wir den Waggon durchqueren, verfolgen uns die neugierigen und vielleicht auch neidischen Blicke. Jetzt sind wir unglaublich dankbar, dass wir wenigstens unser eigenes Bett haben!

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Wieder ein See auf über 4.000 Metern Höhe.

Nachmittags fahren wir dann endlich in das Tal Lhasas ein. Wir sind erleichtert den Zug nach gut 40 Stunden endlich verlassen zu können.

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Endlich ist es so weit! Wir erreichen Lhasa!

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Doch was uns erwartet ist gleich ernüchternd: Ein hochmoderner Bahnhof und stramm stehende Chinesen.

In Lhasa sind wir etwa 3.600 Meter hoch. Die Luft ist ganz angenehm, die Sonne wärmt intensiv, doch schon nach einigen Schritten mit unseren schweren Rucksäcken merken wir, dass wir es hier wohl langsam angehen lassen sollten. Wir atmen tief durch – wir sind in Tibet.

Wir sind froh, als wir unseren Guide kennenlernen, einen gut aussehenden Tibeter, um die 40, der sich als Lobsang vorstellt. Sein Englisch ist sehr gut und er führt uns zu unserem Van, mit dem wir in ein paar Tagen Tibet durchqueren werden. Dort lernen wir auch unseren Fahrer, bzw. unsere Fahrerin, seine Frau, kennen. Auch sie macht einen freundlichen wenn auch etwas reservierten Eindruck. Lobsangs Frau spricht leider kein Englisch.

Wir fahren in die Stadt und haben von einer Brücke über den Fluss Lhasas einen ersten Blick auf den Potala Palast. Irgendwie habe ich ihn mir eindrucksvoller vorgestellt. In dem Buch “Das dritte Auge” wurde er wie eine alles überragende Festung beschrieben, die über der kleinen Stadt thront. Heute umgeben viele mehrstöckige Gebäude den alten Palast, der wie ein Artefakt ein wenig fehl am Platz wirkt. Wir biegen auf die Hauptstraße, die gemeiner Weise auch noch Beijing Road heißt, und fahren bald am Potala vorbei.

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Ist Lhasa etwa eine ganz normale chinesische Stadt geworden?

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Sieht fast so aus…

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Zum Glück gibt es den Potala Palast als Beweis dafür, dass wir tatsächlich in Lhasa sind.

Lobsang und seine Frau bringen uns zum Lhasa Guesthouse, wo die anderen einquartiert werden sollen. Wir haben uns um eine Couchsurferin gekümmert und Lobsang bietet an, uns zu ihrer Adresse zu bringen. Also steigen wir wieder in den Van und fahren wieder zurück in den neuen, chinesischen Teil Lhasas. Auf dem Weg zu unserer Unterkunft müssen Lobsang und unsere Fahrerin mehrmals nach dem Weg fragen. Lobsang will auch mehrmals den Namen unseres “Hotels” wissen, in dem wir untergebracht sind. Als er erneut fragt, sagen wir ihm, dass wir nicht in einem Hotel sondern bei einer Privatperson übernachten wollen. Sofort hebt er erstaunt die Augenbrauen und erklärt uns, dass das nicht erlaubt sei – wir dürfen in Lhasa nicht bei einer Privatperson wohnen! Das war uns nicht klar und wir erklären ihm verwundert, dass wir die Adresse von einer offiziellen Internetseite haben. Lobsang erklärt erneut, dass es nicht möglich sei bei einer Privatperson zu übernachten. Trotzdem fahren wir zu der Adresse und warten dort hinter einer durch chinesische Männer in Uniform bewachten Schranke in einem Innenhof, umgeben von mehrstöckigen neuen Appartementhäusern. Je länger wir warten, desto neugieriger werden die uniformierten Herren, die uns rauchend und spuckend beobachten. Als Galang, eine kleine weißhäutige und rundgesichtige Prototyp-Chinesin, endlich auftaucht, sich vielfach für ihre Verspätung entschuldigt und dann mit Lobsang auf Chinesisch über die Situation spricht, kommen die Wachmänner plötzlich immer näher und stellen sich direkt zu uns, als nähmen sie Teil an unserer Unterhaltung. Zwar hatte Lobsang uns eben noch gesagt, dass wir mit Galang gleich noch kurz in ihre Wohnung gehen und eine Tasse Tee trinken könnten, jetzt verabschieden wir uns aber schon wieder, fast schon hektisch – die neugierigen Blicke und offenen Ohren der chinesischen Wachen beunruhigen wohl nicht nur mich – verabreden uns für später oder den nächsten Tag und verlassen dann beinahe fluchtartig wieder den beschrankten Innenhof.

Auf dem Rückweg erklärt uns Lobsang, dass die Situation in Lhasa gerade ein wenig schwierig sei und Übernachtungen bei Privatpersonen nicht erlaub seien (auch nicht bei Chinesen). Er sagt, dass auch er gerne seine Touristengruppen zu seiner Familie einladen würde, doch das sei eben nicht erlaubt. Er erzählt uns, dass er als Jugendlicher nach Indien geflohen sei und dort Englisch gelernt habe. Nach 11 Jahren sei er dann nach Tibet zurück gekehrt und erst mal von der chinesischen Regierung ins Gefängnis gesteckt worden. Dort habe man ihm immer die gleichen Fragen gestellt – warum er Tibet verlassen habe, warum er jetzt wieder käme und so weiter – und nach fünf Monaten habe man ihn dann wieder laufen gelassen. Auf unsere Fragen hin gibt er zu, dass die Tibeter zwar nach außen hin freundlich zu den Chinesen seien, in ihrem Innern seien sie jedoch Feinde.

Ein wenig verwirrt und mit gemischten Gefühlen stehen wir wenige Minuten später wieder in der Eingangshalle des Lhasa Guesthouse und wollen einchecken. Anne Marie und Quint sitzen unten in der Lobby und lesen Emails. Auch sie sind überrascht über unsere Geschichte und können es kaum glauben. Alle sind sprachlos. Auch als Lobsang von der chinesischen Führung des Hostels wie ein Bittsteller behandelt wird, nur weil er uns einchecken will, fehlen uns die Worte. Er muss viel länger warten als die chinesischen Gäste, die einfach vorgelassen werden und bleibt dabei trotzdem genügsam und geduldig ruhig. Ich werde langsam sauer.

Endlich bekommen wir unser Zimmer zugewiesen. Lobsang begleitet uns und wir stellen fest, dass unser Zimmerschlüssel nicht funktioniert. Zum Glück wohnt noch eine schüchterne Chinesin mit uns im Zimmer und lässt uns rein. Wir stellen uns auf Chinesisch vor, zu mehr Kontakt kommt es jedoch nicht.

Abends gehen wir alle zusammen Richtung Altstadt und bekommen einen ersten Eindruck davon, wie das alte Tibet heute aussieht: An der Ecke am Eingang zur Altstadt stehen bewaffnete Polizisten und Soldaten in kleinen Wachhäuschen und beobachten mit ernsten Mienen das Treiben auf den Straßen. Wir entscheiden uns weiter an der Beijing Road entlang zu laufen und gehen dann einfach in das erstbeste Restaurant, an dem wir vorbei kommen. Unter holländischer Führung gibt es hier ein Essensangebot aller Art zu saftigen Preisen.

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Trotzdem sind alle (von links: Quint, Anne Marie, Helen und Sjoukje) glücklich und bald papp-satt.

Am nächsten Morgen müssen wir schon wieder früh raus. Doch bevor wir uns mit Lobsang zum Stadtrundgang treffen, wollen wir noch das Frühstück auskosten, das im Überachtungspreis inklusive ist. Leider vergesse ich die Frühstücksgutscheine in unserem Zimmer und da ich unsere Zimmertür schon zugezogen habe und unser Zimmerschlüssel ja nicht funktioniert, frage ich einfach Quint, ob wir zwei seiner Gutscheine benutzen  dürften. Als wir endlich den Frühstücksort gefunden haben – wir müssen erst die Straße vor unserem Hostel überqueren, ein Stückchen weiter gehen, dann in ein anderes Gebäude des gleichen Hostels gehen, dort den Aufzug in den 5. Stock nehmen, um ein paar Ecken gehen, noch mal ein paar Treppen hoch, dann um die Ecke und wir finden einen gemütlichen Essensaal mit Fensterfront zum Potala und einem Tisch auf dem in pyramidenähnlicher Form Teller mit einem trocken aussehenden Teigröllchen, Möhren- und Rettichstückchen angerichtet aufgestapelt stehen – und das etwas ernüchternde Frühstücksbuffet erblicken, schüttelt die junge Tibeterin nur ihren Kopf und zeigt auf das Datum meines Essensbons: Das Datum von morgen will sie heute noch nicht akzeptieren. Natürlich hat Quint nur zwei Bons (einen für ihn, einen für Sjoukje) mit heutigem Datum. Wutergriffen rausche ich davon, Christian ergeben hinterher. Zum Aufzug zurück, fünf Stockwerke runter, über die Straße, ins Hostel, unser Portier schläft natürlich noch auf seinem Feldbett hinter dem Tresen. Statt ihn zu wecken und dann eine halbe Stunde auf die Putzfrau mit dem großen Schlüsselbund zu warten, die wahrscheinlich ebenfalls noch schläft, laufe ich lieber bis vor unsere Zimmertür und klopfe die Chinesin vorsichtig wach, die mir auch tatsächlich verschlafen öffnet. Ich entschuldige mich vielfach, schnappe mir die Coupons und mache mich weiterhin fluchend wieder auf den Rückweg. Christian folgt mir immer noch beschwichtigend. Im Aufzug habe ich dann kurz Zeit mich wieder zu beruhigen. Immerhin haben wir jetzt noch 15 Minuten Zeit zum Frühstücken und Zähneputzen. Dann sitzen schon alle bereit in der Lobby und warten auf uns zwei zum Stadtrundgang.

Wir laufen wieder die Beijing Road entlang und biegen dann nach rechts in die Altstadt ab. Am Platz vorm Jokhang Tempel – dem wichtigsten buddhistischen Tempel Tibets – sehen wir zum ersten Mal wie das alte Lhasa mal ausgesehen haben muss: Alte zweistöckige Häuser aus weißem Stein säumen den Platz. Dicke weiße Rauchschwaden, die aus einem riesigen freistehenden Ofen aufsteigen, verströmen den würzigen Geruch von verbrannten Kräutern, Harz und Räucherstäbchen. Und das neue Tibet: Unter vor den Häusern aufgestellten Pavillons stehen chinesische Soldaten wachsam stramm, ausgerüstet mit Maschinengewehren und Handschellen. Ich mache schnell einen Schnappschuss, dann erklärt uns Lobsang, dass es verboten sei Fotos von den Soldaten zu machen. Wir entdecken riesige schwarze Militärfahrzeuge am Straßenrand. Überall marschieren Soldaten auf und ab. Auch auf den Dächern erblicken wir vollausgestattete Scharfschützen. Dieser Ort ist unheimlich, surreal.

Um den Palast ziehen Pilger und Touristen ihre Runden, immer im Uhrzeigersinn. Die einen laufen murmelnd, Gebetsmühlen schwingend oder Gebetskettchen haltend – wobei immer eine Perle nach der anderen zwischen Daumen und Zeige- bzw. Mittelfinger weitergeschoben wird (ähnlich dem Rosenkranz) – über die blankgeschliffenen Steine des Rundgangs, die anderen schlendern einfach im Takt der Pilger mit. Den Schliff erhalten die großen uralten Pflastersteine von den Pilgern, die sich mit Holzplatten, Handschuhen oder aufgeschnittenen Plastikflaschen an den Händen befestigt der Länge nach auf den Boden schmeißen, mit ihren Armen einen Halbkreis auf dem Boden beschreiben, sich wieder nach oben drücken, ein paar Schritte gehen, dabei die Handinnenflächen (und dabei Holz, Handschuhe oder Plastik) über der Stirn und vor dem Herzen zusammen bringen, um sich dann erneut auf den Boden zu werfen. Bevor wir aber den Pilgerscharen folgen, wollen wir erst den Tempel besuchen. Vor der Tempelwand können wir dann die Gebetsprozedur noch einmal genauer beobachten. Die Pilger sind wirklich unermüdlich. Und ihre Art zu Beten hat mit christlichem Händefalten und Blicksenken wenig gemeinsam, sondern gleicht eher einem Workout – ähnlich dem Sonnengruß beim Yoga!

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Allmorgendliches Workout vorm Allerheiligsten.

Wir zahlen unsere 65 Yuan (ca. 7€) pro Person und lassen uns im dichten Tourigedrängel die Sehenswürdigkeiten des Tempels von Lobsang erklären.

Dazu gehören allerlei buddhistische Statuen und natürlich der Gebetsraum der Mönche, in dem gerade tatsächlich von den glatzköpfigen Herren in roten Gewändern in monotonem Sprechgesang vor der ohrenbetäubenden Geräuschkulisse der Touristengruppen gebetet wird. Wir sind beeindruckt und abgeschreckt gleichzeitig, die Gruppenführer nehmen auch keine Rücksicht, sondern reden einfach in normaler Lautstärke weiter.

Lobsang erzählt uns von den verschiedenen Sekten, die es im Buddhismus gibt, und der Geschichte des Tempels, der an der Stelle eines Sees erbaut wurde. Und noch viele andere unglaubliche Geschichten, die wir uns alle gar nicht merken können.

Auf dem Dach des Tempels dürfen wir dann auch wieder Fotos machen.

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Die zwei treuen Rehe waren die ersten Anhänger der Lehren Buddhas und werden daher auch besonders verehrt.

Nach der Besichtigung des Tempels reihen wir uns dann ein in den Pilgerstrom im Uhrzeigersinn.

Nach wenigen Metern verlässt uns Lobsang bereits, wir folgen weiterhin den Massen. Nach einer Runde durch die Innenstadt trennen sich unsere Wege: Sjoukje und Quint wollen es sich in der Sonne gemütlich machen, wir anderen vier laufen noch ein wenig durch die Altstadt.

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Die Gassen in der Altstadt Lhasas sind voller Leben…

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…und voller lecker aussehender Produkte!

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Immer wieder entdecken wir kleine versteckte Klöster, aus deren Räucheröfen duftender Qualm aufsteigt, im Innern ist das gleichmäßige Schlagen einer Trommel zu hören.

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In einem kleinen Laden nähen fleißige Frauen Gebetsfahnen zusammen.

Um 13 Uhr treffen wir uns vor einem alten tibetischen Restaurant zum Mittagessen wieder. Das Essen ist viel besser als beim alten Holländer und auch viel günstiger…

Nach dem Mittagessen sind alle so k.o., dass wir kollektiv zum Mittagsschlaf zurück ins Hostel gehen. Die Chinesin ist mittlerweile ausgezogen und wir bekommen ihren Schlüssel, der auch wunderbar funktioniert. Ich schlafe tatsächlich zwei Stunden, dann heißt es E-Mails checken, beantworten und so weiter. Später sind wir mit Galan zum Abendessen verabredet. Sie begleitet uns in ein anderes tibetisches Restaurant, sie selbst hat keine Ahnung wo wir hingehen könnte. Mit der Bedienung spricht sie dann auch prompt erst mal Chinesisch, welche daraufhin in bestimmtem Tonfall auf Englisch antwortet, dass sie kein Chinesisch spreche, dies ein tibetisches Restaurant sei und sie gern auf Englisch bestelle dürfe. Galan reagiert mit dem typisch chinesischen Kichern und erwidert erneut auf Chinesisch, was von der Bedienung ignoriert wird. Ich frage Galan was sie essen möchte. Von da an kommunizieren Bedienung und Galan über mich, was für mich keine Problem ist, die Situation ist trotzdem seltsam.

Nach dem Essen wollen wir zum Potala Palast laufen. Wir erfahren, dass Galan seit einem Jahr in Lhasa lebt und bei einer chinesischen Telefonfirma arbeitet. Viel mehr erfahren wir jedoch nicht über sie. Nach kurzem Spaziergang am Potala angekommen, setzt bald die imposante Springbrunnen-Lichtershow, untermalt von ohrenbetäubender Musik, auf dem chinesischen Platz vor dem Potala ein.

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Vor und auf dem Potala weht die chinesische Flagge.

Die gesamte Inszenierung ist eine Demonstration chinesischer Macht, die erneut Wut in uns aufsteigen lässt. Dieses Jahr feiert China den 60. Jahrestag “der Befreiung Tibets”. Sollte es nicht eigentlich “Besatzung” oder gar “Unterdrückung” heißen??

Wie auch immer. Das Spektakel vor riesigem Denkmalklotz (dem Potala gegenübergestellt steht ein riesiger phallischer Sockel) unter roter Flagge mit goldenen Sternen dauert zu lange um es komplett mit zu verfolgen und so verabschieden wir uns bald von Galan und kehren müde zurück in unser Hostel.

Am nächsten Morgen können wir endlich mal ausschlafen, wenn die Bauarbeiten direkt vor unserem Fenster nicht 24 Stunden durchgeführt würden inklusive lauter Kranarbeiten und Hupen. Kurz vor Ende des Frühstückbuffets kommen wir mit gültigen Frühstücksgutscheinen noch zu unserem kostenlosen Sparmenü. Im Anschluss laufen wir mit Helen zusammen in die Stadt.

Die Suche nach einer China Post raubt uns den ganzen Vormittag. Dann wurschteln wir uns wieder durch die Altstadt bis wir den Laden mit den Gebetsfahnen wiederfinden. Wir treffen Anne Marie und schlendern zu viert noch ein wenig weiter durch das chaotische Gewusel der Altstadt.

Um 14 Uhr steht Lobsang abfahrbereit in der Lobby unseres Hostels um uns zum Sera Kloster zu begleiten. Vorher kommen Quint und Sjoukje jedoch ganz benommen von einer unglaublichen Begegnung mit einem “richtigen” Tibeter zurück. Sie hätten ihn auf dem Platz vorm Potala kennengelernt und er habe ihnen ganz eindrucksvoll den Garten hinterm Potala gezeigt. Er sei Restaurateur und stadtbekannt oder fast schon berühmt, alle hätten ihn gegrüßt.

Im Gegensatz zu diesem authentischen Erlebnis fällt unser Besuch des Klosters eher unter die Kategorie Touristenabzocke. Wir zahlen wieder 65 Yuan Eintritt und schlendern dann durch die bebaumten Alleen des alten Klosterdorfs, in dem früher bis zu sechstausend Mönche lebten und lernten. Heute sind es angeblich nur noch vierhundert. Wir schauen uns zwei Klostergebäude an und besuchen dann die touristische Debattierrunde der Mönche.

Der Garten füllt sich erst mit Touristen, die sich zu den Seiten auf den Gehwegrand quetschen und dann nach und nach mit in bordeaux-rot gekleideten Mönchen.

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Die Mönche finden sich in kleinen Gruppen zu fünft oder sechst zusammen, lassen sich auf Sitzkissen auf dem Kiesboden nieder, einer steht, der stellt die Fragen. Gleich neben uns macht es sich eine Runde älterer Mönche im Schneidersitz bequem. Während  die jüngeren gleich mit dem Debattieren loslegen, wird in unserer Runde erst mal ein wenig geplaudert. Dann erhebt sich einer der Männer und beginnt eine Art Einleitung zu sprechen. Er spricht einen der sitzenden Mönche an und bezieht ihn in seinen Vortrag ein. Als die Wortwechsel zügiger werden, unterstreicht der stehende Mönch, der sich anscheinend in der fragenden und damit der prüfenden Rolle befindet, seine Fragen durch das Aufeinanderschlagen seiner Handinnenflächen vor seinem Körper, wobei er den einen Arm steif vor seinem Körper ausstreckt und den von oben kommenden zweiten Arm einen Halbkreis beschreibend auf den ersten hinunterfallen lässt. Der Garten ist bald erfüllt vom Klatschen der debattierenden Mönche.

Nach einer Viertelstunde haben wir genug gesehen und treffen uns alle draußen wieder. Ein wenig enttäuscht über diese Touristenshow verlassen wir mit dem Bus wieder das Kloster. Wir wollen uns ein wenig ausruhen, Sjoukje und Quint wollen Popo, ihren Tibeter, aufsuchen. Nachdem wir nicht ausgeruht, dafür aber ein paar Postkarten geschrieben haben, machen wir uns erneut auf den Weg zum Potala. Ich erfahre, dass nicht nur Sjoukje und Quint, sondern auch Anne Marie und Helen mit Popo unterwegs sind und bin noch enttäuschter. Ich stelle mir all die Dinge vor, die die vier jetzt wahrscheinlich zu sehen bekommen – versteckte Klöster, Tee-Zeremonien, Mönche, Statuen… – und werde so sauer darüber, dass wir, anstatt mit von der Partie zu sein, lieber Postkarten schreiben und uns erneut den Potala ansehen. Christian versucht mich zwar zu beruhigen (“Der will doch sicher eh nur deren Geld.”, “Der zeigt denen wahrscheinlich einfach die Altstadt und will dann Geld von denen.” …), aber ich bin einfach fertig und kann mich an nichts mehr erfreuen. Als wir uns um 19 Uhr mit den anderen zum Abendessen treffen erzählt uns Anne Marie erst mal was sie alles am Nachmittag erlebt hätten (versteckte Klöster, Tee-Zeremonien, Mönche, Statuen…), ich will am liebsten nur noch ins Bett und nichts mehr hören. Anne Marie merkt, dass es mir schlecht geht und entschuldigt sich sofort.

Popo, ein kleiner flinker Tibeter mit tiefen Lachfalten und schiefen Zähnen, führt uns durch die Straßen in ein Restaurant. Alle sind extrem begeistert, von dem Restaurant, der Einrichtung, der Drehscheibe auf dem Tisch, ich bin total fertig und alle sehen es mir an. Ich bekomme eine Kette geschenkt, die vor Höhenkrankheit schützen soll, ich lächele halbherzig, doch dankbar. Popo flüstert Sjoukje etwas ins Ohr, sie ist ganz außer sich und richtet das Wort an die Gruppe: Popo habe vorgeschlagen für alle eine kleine Buddha Statue zu machen und sie uns zu schicken. Ich wünsche mir eine Bodhisattva. Wir bestellen verschiedene Gerichte und unsere Stimmung hebt sich ein wenig. Helen fragt, ob wir nach dem Essen noch in ein Kloster gehen könnten, da wir ja noch keines gesehen hätten.

Das Essen kostet ganze 50 Yuan pro Person! Dabei war es gar nicht so viel. Doch an der positiven allgemeinen Stimmung kann das nichts ändern.

Beim Herausgehen sehe ich von Außen das Reklameschild des Restaurants “Traditional Tibetan Food” – ein Touristenrestaurant…

Popo läuft mit uns in die Altstadt. Alle verlieren ihre Orientierung, dann stehen wir plötzlich vor dem Kloster mit dem qualmenden Ofen und der Trommel (nur das jetzt – im Dunkeln – der Ofen aus und die Trommel verstummt ist). Popo ruft, ein Mönch öffnet das Tor, wir steigen die steilen Stufen hinauf.

Im Innern sitzen ein alter und ein jüngerer Mönch. Wir schauen uns die Buddha-Statuen an und bewundern Popos Kunstwerk. Dann schlägt der alte Mönch für uns die Trommel und wir müssen uns wieder verabschieden.

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Schon seltsam, dass wir ausdrücklich zum Fotosmachen aufgefordert werden…

Popo führt uns weiter um tausend Ecken und durch dunkle Gassen bis wir vor dem nächsten Kloster stehen. Wieder wechselt Popo ein paar Worte mit den Jungs, die vor dem Kloster zusammen sitzen und führt uns anschließend hinein. Nachdem wir durch einen dicken Stoff, der als Eingangstüre dient, hindurch geschlüpft sind, erblicken wir an einem langen Pult mehrere Mönche. Der älteste schlägt eine Trommel im Takt, ein junger singt dazu meditativ monoton. Wir werden einen Raum weiter geleitet, in dem wir wieder ein paar Buddha-Statuen bewundern dürfen. Als wir das Kloster verlassen, zwinkert mir der junge Mönch zu. Wäre er kein Mönch, würde ich glatt meinen, er flirte mich an!

Ein wenig erleuchtet verlassen wir das Kloster und Popo führt uns zurück durch die kleinen dunklen Gässchen, bis wir wieder an der Kreuzung vor unserem Hostel stehen. Der Abschied fällt Sjoukje und Quint sichtlich schwer, sie bedanken sich tausendfach und drücken ihm die Hunderter nur so in die Hand. Helen muss ihn noch mal umarmen und wirft ihm ebenfalls 100 Yuan entgegen, die er grinsend mit den anderen Scheinchen in seiner Hosentasche verschwinden lässt. Unser Handschlag fällt eher oberflächlich aus.

Zurück im Zimmer hat Christian mich bald davon überzeugt, dass Popo ein Betrüger ist und wir keine Buddha-Statuen bekommen werden. Erst versuche ich noch ihn zu verteidigen, doch dann sehe ich ein, dass die Geschichte, die er uns aufgetischt hat, zu märchenhaft ist um wahr zu sein. Hatte er nicht Quint und Sjoukje, die zwei naivsten und ahnungslosesten Touris, am Potala Palast aufgegabelt mit der Masche: “Where are you from? Oh, I’ve been to the Netherlands!”, ihnen ein paar Orte gezeigt um sie zu beeindrucken, um dann über die Touristenattraktionen zu schimpfen um noch ein bisschen glaubwürdiger zu erscheinen? Sobald sie nachmittags bei ihm anriefen (über unser Telefon) hatte er da nicht sofort Zeit für sie gehabt und bereitwillig auch Helen und Anne Marie durch die Altstadt geführt? Dann bringt er alle in ein ziemlich teures Tourirestaurant, lässt ohne mit der Wimper zu zucken für sich zahlen (er hätte ja wenigstens so tun können als wolle er sich beteiligen) und steckt am Ende des Tages noch unschuldig lächelnd etwa 700 Yuan in die Tasche ohne zu versuchen das Geld abzulehnen. Sollen wir den anderen von unserem Verdacht erzählen?

Am nächsten Morgen treffen wir Lobsang um 6.30 Uhr in der Lobby unseres Hostels. Heute geht es endlich los. Raus aus der zerrissenen Stadt, auf ins alte Tibet! Doch Helen dämpft jäh meine Vorfreude: Sie habe einen Artikel über Menschenrechtsverletzungen in Tibet geschrieben und dabei herausgefunden, dass in manchen Gebieten, weit entfernt von den touristischen Routen natürlich, Tibeter in Flüchtlingslagern leben würden. Die chinesische Regierung passt schon auf, dass Tibeter nicht unkontrolliert mit Touristen in Kontakt kommen und Touristen nicht erleben wie es in Tibet wirklich aussieht…

Wir fahren durch den noch schwarzen Morgen. Doch langsam färbt sich der Horizont hinter uns hellblau und wir können die Landschaft um uns herum schemenhaft erkennen. Wir sehen die Umrisse von kleinen Steinhäuschen, Mauern, überall chinesische Flaggen. Tibetische Flaggen haben wir noch gar nicht gesehen, sie sind in Tibet verboten…

Wir schrauben uns den ersten Pass empor und sind sogleich fasziniert von der tollen Aussicht. Auf der anderen Seite des Passes erwartet uns ein eisiger Wind und der weitschweifende Blick auf einen langgezogenen leuchtend blauen See.

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Um uns den See ansehen zu dürfen zahlen wir jeder 40 Yuan (gute vier Euro).

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In Serpentinen begeben wir uns langsam auf Höhe des Sees.

Zum frühen Mittag halten wir in einem kleinen Ort und essen heiße Suppe und Omelette. Dann geht unsere Fahrt am See entlang weiter. Wir fahren einen weiteren Pass hinauf und kommen einem Gletscher ganz nah.

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Kharola Gletscher, 5.560 Meter hoch, wir sind natürlich nicht ganz so hoch!

Wir lassen den Gletscher hinter uns und haben bald wieder eine tolle Aussicht auf das unnatürlich türkise Wasser des Sees unter uns.

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Fotoshop kann man hier vernachlässigen.

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Wir staunen atemlos – immerhin sind wir immer noch ziemlich hoch.

Wir kurven wieder durch riesige schneebedeckte Berge Richtung Gyantse, einer alten tibetischen Stadt, die sich laut Reiseführer dem chinesischen Einfluss weitestgehend entzogen hat.

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Und so wird Gyantse auch ein besonderer Zwischenstopp für uns.

Erst müssen wir (Helen eher gesagt) Lobsang ziemlich bearbeiten uns zu begleiten, dann kommt er jedoch widerwillig mit und erzählt uns ein wenig über Architektur und Stil der Häuser. Zusammengefasst heißt das: Tiere unten, Menschen oben. Früher: alle zusammen unten. Wir beginnen zu schlendern und gleichzeitig Fragen zu stellen. Was macht er sonst so mit seinen Gruppen? Wie ist er Guide geworden? Wie geht er mit der chinesischen Zensur um? Diese Zusammenfassung fällt etwas länger aus: Mit 15 nach Indien ins Exil gegangen und Englisch gelernt, nach 10 Jahren zurückgekehrt und erst mal für fünf Monaten im Gefängnis gelandet (den Teil der Geschichte kannten Christian und ich ja schon). Was wir noch nicht wussten: Dass seine Ausreise deshalb illegal war, weil er keinen Reisepass besitzt. Warum? Weil Tibeter keinen Reisepass bekommen. Ganz einfach. Sie werden gezwungen in Tibet zu bleiben, statt ihr Wissen und ihre Erfahrungen über die Landesgrenzen hinweg zu transportieren. Wir sind erstaunt. Auch die Ausbildung zum Guide war für Lobsang schwerer als für andere Tibeter, die nicht auf der “schwarzen Liste” der chinesischen Regierung stehen. Da er bereits im Gefängnis gewesen war, wurde er nie zur Prüfung zugelassen, sein Termin wurde einfach immer wieder verschoben. Nur durch Beziehungen konnte er letztendlich die Zulassung erhalten. Lobsang erzählt uns von den alljährlichen “Guide Fortbildungen”, in denen die tibetischen (und chinesischen) Guides lernen wie sie die Geschichte Tibets zu erzählen haben. Lobsang sagt uns, was wir schon vermutet hatten, dass die “Befreiung” Tibets durch China für die Tibeter keinesfalls ein angenehmes Ereignis war. Er verrät uns, dass er uns all das eigentlich nicht erzählen dürfe. Einem Kollegen von ihm habe das den Job gekostet, als sich ein Gast seiner Gruppe als Spion der chinesischen Regierung herausstellte. Für ihn bedeute das dann lebenslänglich Gefängnis. Ob er Folter erlebt habe, will Helen vorsichtig wissen. Er habe es gesehen, antwortet er kurz angebunden. Überall könne es Spitzel und Spione geben, führt er ausweichend fort, auch Kameras seien üblich, auch hier in Gyantse. Sein Beruf sei ja ziemlich gefährlich, schließe ich und er nickt bedrückt. Uns ist ein bisschen unheimlich zumute und wir laufen zurück zum Van und verlassen das tibetisch verschlafene Gyantse, das plötzlich aussieht wie eine Musterstadt aus Pappmaschee. Alles erscheint in einem anderen Licht.

Wir fahren weitern nach Shigatse. Hier ist alles wieder in alter Ordnung: Chinesische Flaggen, eine “Walking Road”, durch die Autos, Taxen und Laster mit Tempo 50 brettern, und eine moderne Shopping Mall.

Wir gehen zu Abend esse, sind aber alle ein wenig enttäuscht von unserem Essen. Auch unsere Unterkunft ist für 35 Yuan pro Person ein wenig spartanisch und die Duschen wenig einladend. Wir verbringen eine kurze Nacht auf dreckigen Laken. Dann weckt uns Quint mit den Worten “It’s six-thirty guys!”, dabei hätten wir um 6 Uhr aufstehen sollen. Christian hat wohl auf unser aller Wecker geschlafen…

So brechen wir halt eine halbe Stunde später auf. Draußen wird es schon langsam hell. Heute soll es zum Mt. Everest Basecamp gehen. Ob wir ihn wohl zu Gesicht bekommen, den größten Berg der Welt? Oder ob er sich in Wolken hüllt?

Erst müssen wir wieder ein paar Pässe überqueren, die mittlerweile weit über 5.000 Meter hoch sind und ich spüre bei meinen kurzen Erkundungstouren schnell meinen Herzschlag ansteigen, ich atme tief, doch bekomme kaum genügend Luft, jeder Schritt ist anstrengend, mein Herz pumpt kraftvoll, es fühlt sich stark und gesund an, das tut gut!

Dann erspähe ich am Horizont wieder eine Kette gewaltiger schneebedeckter Berge. Einer ist besonders groß und ragt mit seiner pyramidenförmigen Spitze in den Himmel.

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Ist er das?

Er sieht jedenfalls toll aus! Lobsang verkündet uns, dass dies Mt. Everest ist, wir halten und machen Fotos. Alle sind beglückt. Dieser Berg strahlt so eine Stärke aus, eine Ruhe und einen Enthusiasmus, der uns alle erfüllt. Ich hätte nie gedacht, dass ich ihn tatsächlich mal sehe. Und jetzt stehe ich hier und er ist da, existiert wirklich, ist nicht nur eine Markierung im Weltatlas, die ich als Kind staunend mit dem Finger befühlte, sondern ein massiver Felsklumpen, beinah zum Greifen nah! Ich bin sprachlos und kann gleichzeitig nicht aufhören zu lachen. Ich weiß nicht ob die anderen sich ebenso fühlen, aber ich schwebe wie auf Wolken.

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Wieder ein toller Blick. Everest ist links im Bild.

Jetzt lasse ich ihn nicht mehr aus den Augen. Wir fahren wieder runter und kurven durch wüstenartige Umgebung. Langsam gewinnen wir wieder an Höhe, verlassen die Hauptstraßen (den “Friendship Highway“, der Tibet und Nepal miteinander verbindet) und huckeln über Sandpisten Richtung Basislager des fetten Riesen.

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Wir sind beeindruckt von der Einfachheit, in der die Menschen hier leben.

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Auf dem Weg passieren wir wieder einen militärisch bewachten Kontrollpunkt, an dem wir jeder 180 Yuan Eintrittsgeld bezahlen müssen und auf unsere Pässe und Permit kontrolliert werden. Nachmittags erreichen wir dann das gut 5.000 Meter hohe Zeltlager, in dem sich zur Zeit jedoch keine Expeditionszelte befinden (Expeditionen finden grundsätzlich im Frühling statt, die einzige Zeit im Jahr, in der das kurzzeitige Nachlassen der brutal kalten Wilde dort oben eine Besteigung möglich macht) sondern nur eine langsam immer kleiner werdende Zeltstadt für Touristen. Wir checken im Zelt mit dem Namen “Everest View Hotel” ein. Eine an der Außenwand entlang verlaufende mit Teppichen überzogene Bank dient als Bett, in der Mitte ein Ofen, der sogleich von unserem Zelttypie mit Yakkacke befeuert wird. Im Innern wird es warm. Doch wir wollen lieber draußen sein, am Fuße des sonnenbeschienenen Berges. Da die Saison schon vorbei ist, gibt es keine Poststelle mehr (leider! Wie gern hätte ich meinem Papa eine Postkarte vom höchsten Briefkasten der Welt geschickt) und auch keinen teuren Touribus zum Basislager der Kletterer (zum Glück), die sich wie gesagt wenn dann nur im Frühling hier aufhalten, und das auch immer seltener, da der Berg heutzutage eher von der nepalesischen Seite aus bestiegen wird. Heute ist das Basislager eher ein Militärposten chinesischer Machtdemonstration zum dem wir ganz umsonst mit dem eigenen Van gefahren werden. Dort dürfen wir aussteigen, Lobsang muss zurück bleiben und wir steigen den kurzen aber steilen Pfad zum Aussichtspunkt empor. Weiter dürfen auch wir nicht, wollen wir aber auch gar nicht, denn oben angekommen sind wir vollkommen außer Atem (wie soll das nur in Nepal werden mit unseren Rucksäcken auf dem Rücken?!) und ein eisiger Wind bläst uns fast davon. Fotos machen. Vielleicht ein Souvenir kaufen. Nein Danke! Dann schnell wieder runter.

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Näher dürfen wir nicht ran.

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Dieser Berg wirkt unbezwingbar!

Die Nacht wird kalt – am nächsten Morgen sind die Teereste in unseren Gläsern und das Wasser in unserer Trinkflasche knallhart gefroren – doch wir frieren außer an der Nase und an den Füßen kaum. Denn zum Glück gibt es super warme Decken und wir haben ja auch Schlafsäcke und Mützen dabei.

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Knackigkalter Sternenhimmel.

Ich bin schon früh wach und kann es kaum erwarten den Sonnenaufgang am Berg mit zu erleben! Draußen ist es schweinekalt doch mit Schlafsack ist es auszuhalten. Auch wenn die Finger bald taub sind, mache ich doch unglaublich viele Fotos.

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Sonnenaufgang auf 5.300 Metern.

Nach Sonnenaufgang und Frühstück fahren wir wieder und lassen den schönen Berg vorerst hinter uns. Vielleicht haben wir ja von Nepal aus noch mal die Gelegenheit ihn zu besuchen…

Die Sandstraße gleicht einem 4×4-Trek und wird für alle zu einem sehr unangenehmen Erlebnis. Vor allem auf den hinteren Plätzen fliegen wir jedes Mal an die Decke und landen unsanft wieder auf dem Steißbein.

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Impressionen aus einem stetig schaukelnden Auto…

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Abschied von ganz oben.

Als wir endlich wieder die Hauptstraße unter den Rädern haben, geht es noch mal über einen 5.000 Meter Pass, dann nur noch bergab. Zangmu, die Grenzstadt auf tibetischer Seite, gibt uns schon mal einen Vorgeschmack auf Nepal. Die ganze Stadt ist an eine einzige Straße gequetscht, die sich den Berg hinabschlängelt. Das Klima ist fast schon tropisch. Die Luft ist dick und feucht. Uns kommen bunt bemalte Lastwagen entgegen mit Aufschriften wie “Speed Control”, “Horn Please” oder “Love is for free” und wir bekommen gleich das Gefühl, dass hier alles ein bisschen lockerer ist als im geordneten China. Die Menschen sehen auch anders aus, indisch irgendwie, mit europäischen Gesichtszügen, dunkler Haut und schwarzen Augen und Haaren.

Es dauert bestimmt eine halbe Stunde bis wir endlich auf die Hälfte des Ortes hinabgekurvt sind, ständig müssen wir Laster vorbei lassen oder hupend andere Autos aus dem Weg schupsen. Dann erreichen wir endlich das “Sherpa Hotel” und checken in zwei spartanische Zimmer ein.

Abend essen wir in einem Restaurant nebenan. Das Essen ist zwar super lecker und auch sehr günstig, aber es dauert ewig bis alle etwas zu Essen haben, da es in der Küche anscheinend nur eine Kochplatte gibt. Als ich zum Abschluss noch einen Milchshake bestelle bekomme ich eine heiße Schokolade aus Yakmilch. Wir tauschen bei den umherstreunenden Damen (bei einer, die uns von Lobsang als vertrauenswürdig und als mit echten Rupienscheinen handelnd empfohlen wird) unsere chinesischen Yuan in nepalesische Rupien (1 Euro sind etwa 110 Rs) und tauschen mit Quint noch 100€ (die wir in Sankt Petersburg von Marina bekommen hatten) gegen 130US$ für unser Visum. Wir haben uns nämlich kurzfristig dazu entschlossen statt 30 Tage drei Monate in Nepal zu bleiben und das kostet pro Person 100US$.

Diese Nacht schlafen alle herrlich. Die Betten sind zwar nur halbwegs sauber, dafür aber wunderbar breit und gemütlich. Leider müssen wir um 8 Uhr schon wieder aufstehen. Wir frühstücken schnell und werden dann von Lobsang und seiner Frau zur Grenze gebracht. Dort reihen wir uns ein in die Schlange Touristen, die alle aus Tibet bzw. China ausreisen und nach Nepal einreisen wollen.

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Mit Lobsang in unserer Mitte fällt der Abschied aus Tibet schon ein wenig schwer.

Die Grenze ist ganz und gar chinesisch. Erst müssen wir mit Lobsangs Permit einchecken, dann unsere Rucksäcke aufs Fließband legen, durch die Durchleuchtungsmaschine schicken, auf der anderen Seite wieder aufnehmen und uns zurück in die Schlange stellen. Es folgt die manuelle Kontrolle: Unsere Rucksäcke werden alle geöffnet und oberflächlich durchsucht. Welche Bücher wir dabei hätten, wollen die jungen uniformierten Chinesen wissen. Ich zeige meine China Bücher: Mandarin, Chinesisch im Handgepäck, Sightseeing in Shanghai. Die Kopie des Kapitels über Tibet aus dem Lonely Planet haben wir draußen bereits in den Müll geschmissen, Anne Marie hat ihren Lonely Planet in ihrem Schlafsack versteckt. Dann nur noch die Pass- und Gesichtskontrolle. Stempel Ausreise. Drüben! Nur Anne Marie bekommt ihren “American Passport” vorerst nicht wieder und muss bibbernd in der Ecke stehen während wir anderen kontrolliert werden. Was die Chinesen wohl mit ihrem Pass machen? Kopien für die ganze Familie? Oder machen die das einfach weil sie es können? Wir trauen dem chinesischen Verwaltungsapparat mittlerweile alles zu…

Dann ist auch Anne Marie im no-man’s-land mit uns und wir laufen über eine Brücke, die Tibet und Nepal mit einander verbindet. In der Mitte ist der rote Streifen aufgemalt. Hinter uns ein stramm stehender und salutierender Chinese, den werden wir wohl kaum vermissen. Vor uns verschmitzt lächelnde Nepalesen, die entspannt am Brückengeländer lehnen, mit ihren dreckigen Klamotten und ihren Badelatschen.

Was hat Nepal wohl für uns zu bieten? Es empfängt uns laut, dreckig, chaotisch und voller Farben.

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Unglaublich, deine Geschichten. Ich bin begeistert, habe fast das Gefühl ein bischen Jakkackenduft in der Nase zu haben und bekomme unglaublich Fernweh!!
Alles Gute weiterhin und viel Liebe hier aus der Heimat!

16. November 2011 21:37

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